In meinem Menschenbild, das immer noch stark von Sigmund Freud geprägt ist, war lange Sexualität - gerade wenn sie verdrängt ist und aus dem Unterbewusstsein heraus wirkt - die mächtigste treibende Kraft. Doch ein Pansexualist muss umlernen. Noch stärker als Sexualität ist der Stolz des Menschen, sein Selbstwertgefühl. In der psychoanalytischen Fachsprache heißt dies Narzissmus, und man unterscheidet gesunden von krankhaftem Narzissmus. Streben nach Anerkennung durch die Mitmenschen kann zu sozial wertvollen Leistungen anspornen und ist dann durchaus gesund. Pathologisch kann es werden, wenn der Narzissmus auf wackeligen Beinen steht und deshalb reizbar ist, oder wenn er zu Eitelkeit oder gar Größenwahn ausartet. Allerdings ist jeder Mensch, auch der sozialste und bescheidenste, in einem Winkel seiner Seele zumindest ein bisschen eitel, die Grenze zwischen gesundem und krankem Narzissmus ist oft fließend und Geschmacksache.
Die Allmacht des menschlichen Narzissmus zeigte sich in der Debatte um die Sterbehilfeaktionen des Roger Kusch. Da war zum Beispiel Frau Schardt, die das drohende Schicksal vor Augen hatte, bald fast vollständig gelähmt, also hilflos, in ein Pflegeheim eingewiesen zu werden. Dem zog sie den Freitod vor, zu dem Kusch ihr verhalf. Hätten Außerirdische diese Debatte verfolgt, hätten sie sich zu Recht verwundert. Lieber sterben zu wollen, denn als hilfloser Pflegefall weiterzuleben, ist doch normal. Warum hat der Fall Kusch-Schardt so viele Menschen derart aus dem Häuschen gebracht, dass Kusch zur Unperson, zum mephistophelischen Verführer erklärt und ihm die Sterbehilfe sogar gerichtlich verboten wurde? Die aufgebrachten Zeitgenossen argumentierten gegen Kusch mit der Würde des menschlichen Lebens, die unantastbar ist, weshalb ein Menschenleben nicht einfach beendet würden dürfe, auch nicht von seinem Träger, also in diesem Fall von Frau Schardt selbst. Diese für Außerirdische sicher befremdliche Haltung fließt aus dem menschlichen Narzissmus. Um diejenigen, die von ihm getrieben werden, zu begreifen, versuchen wir es über verwandte Streitthemen, die sich ebenfalls um den Schutz menschlichen Lebens drehen.
Westdeutsche Feministinnen, die in den 70ern mit Vehemenz die Freigabe der Abtreibung erstritten haben, begrüßten es sicher als Fortschritt, dass sie auch in Ländern wie China erlaubt ist. Doch diese Einstellung schlug bei vielen ins Gegenteil um, als bekannt wurde, dass viele bäuerlich-konservative Chinesen bevorzugt weibliche Föten abtreiben, weil ihnen ein Sohn lieber ist, als "nur" ein Mädchen. Nun ließe sich einwenden: Einer deutschen Frau kann es doch egal sein, ob in China bevorzugt weibliche Föten getötet werden. Ist es aber nicht, weil diese Praxis eine kränkende Aussage impliziert: Frauen sind weniger wert als Männer. Wäre ich eine Frau, würde mich diese praktizierte Frauenverachtung auch empören.
So wird es auch verständlich, wenn es einem Behinderten relativ egal ist, wenn Frauen abtreiben, weil sie vergewaltigt wurden oder noch in der Ausbildung sind, nicht aber, weil der Fötus behindert ist. Denn in letzterem Fall handelt doch die Frau aus der Einstellung heraus: Das Leben eines Behinderten ist nicht lebenswert, ein behindertes Kind kann ich nicht lieben - eine existentielle Kränkung für Behinderte, so dass viele von ihnen die alte Forderung unserer Bürgerbewegung "Mein Bauch gehört mir!" außer Kraft setzen wollen und Zwangselternschaft verlangen: Die Mutter hat dieses Kind auszutragen und anzunehmen! Das wird auch in der aufgeregten Diskussion um einen SPIEGEL-Artikel klar, "Der Ludwig lacht", desen Autorin über ein schwerstbehindertes Kind schreibt und auch Empathie für die Eltern aufbringt, für die eine Welt zusammenbrach und die an Abtreibung dachten. Der Behinderten-Anwalt Oliver Tolmein, dessen Engagement aus kämpferischem Mitgefühl für die Schwachen und Beleidigten fließt und nicht verächtlich ist, redet der Zwangselternschaft das Wort, und als ich ihm entgegenhielt, das sei doch mit Zwangsehe verwandt, eine Verletzung der Selbstbestimmung, argumentierte er unter anderem, Zwangsehe und Zwangselternschaft seien nicht zu sehr verwandt, denn:
"Wenn Zwangsheiraten abgeschafft werden, stirbt niemand, es wird keine Gruppe nachhaltig diskriminiert...."
Andere Konsequenzen hätte die Abschaffung der Zwangselternschaft:
"Räumen wir Eltern, wie es bis 1995 war, das Recht ein, sich gegen Kinder mit Behinderungen zu entscheiden, wird die Behinderung zum Merkmal, das über Leben und Tod entscheidet. Das bedeutet eine enorme Diskriminierung einer ganzen Gruppe von Menschen. Deswegen hat sich der Gesetzgeber entschieden, diese Regelung aufzuheben."
Zurück zu Frau Schardt, die sich von Kusch zum Suizid helfen ließ, weil sie nicht ins Pflegeheim wollte. Hat sie doch damit bekundet: Ich finde das Leben im Pflegeheim nicht lebenswert - eine unerträgliche Kränkung für alle Pflegebedürftigen! Und für alle, die es werden können! Nothelfer für den Narzissmus wurde die BRD-Justiz, die Kusch Sterbehilfe verbot. Wie gut, dass diesem Kerl, der uns so beleidigt, endlich das Handwerk gelegt ist!