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DAS SCHLECHTE GEWISSEN DES EROBERERS: EUTHANASIE UND MENSCHENOPFER

Seit der Mensch sich kraft seines Bewusstseins von der Natur emanzipiert hat, macht er sie sich untertan. Das heißt, er tritt ihr als Eroberer, als Ausbeuter, als Imperialist gegenüber. Daraus fließt nicht nur Stolz, sondern auch Schuld, was das berühmte Chorlied in Sophokles' Drama Antigone anklingen lässt:

Vieles ist ungeheuer, nichts
ungeheurer als der Mensch.
Das durchfährt auch die fahle Flut
in des reißenden Südsturms Not;
das gleitet zwischen den Wogen
die rings sich türmen! Erde selbst,
die allerhehrste Gottheit,
ewig und nimmer ermüdend, er schwächt sie noch,
wenn seine Pflüge von Jahr zu Jahr, wenn
seine Rosse sie zerwühlen.

Völker der Vögel, frohgesinnt,
fängt in Garnen er, rafft hinweg
auch des wilden Tieres Geschlecht,
ja, die Brut der salzigen See
in eng geflochtenen Netzen,
der klug bedachte Mann, besiegt
mit List und Kunst das freie,
bergebesteigende Wild und umschirrt mit dem
Joche den mähnigen Nacken des Rosses und
auch des unbeugsamen Bergstiers.

Und Rede und, rasch wie der Wind,
das Denken erlernt' er, den Trieb,
die Staaten zu ordnen, und auch der Fröste
Unwohnlichkeit im Gefild
und Regensturms Pfeile fliehn:
allbewandert, in nichts unbewandert schreitet er
ins Künft'ge; vorm Tod allein
sinnt er niemals Zuflucht aus;
doch für heilloser Krankheit Pein
fand er Hilfe.

Mit kluger Geschicklichkeit für
die Kunst ohne Maß begabt,
kommt er heut auf Schlimmes, auf Edles morgen.

(Vers 332ff., Übersetzung: Wilhelm Willige)

Bei diesem Prozess des Herrwerdens über die Natur ist besonders schuldbeladen der Übergang zum Ackerbau. Dass die Erde, die der Naturmensch als nährende Mutter mit religiöser Scheu verehrt, aufgerissen und intensiv ausgebeutet wird, beklagt der Chor auch:

Erde selbst,
die allerhehrste Gottheit,
ewig und nimmer ermüdend, er schwächt sie noch,
wenn seine Pflüge von Jahr zu Jahr, wenn
seine Rosse sie zerwühlen.

Willige übersetzt richtig, dass der Mensch die Erde "schwächt" - man könnte auch übersetzen: Er zeht an ihr, zehrt sie aus. Das meint auch der Indianer Sitting Bull, wenn er den weißen Eroberern seines Landes vorwirft:

Sie beanspruchen unsere Mutter, die Erde, zu ihrem eigenen Nutzen und zäunen ihre Mitmenschen von ihr ab. Sie verunstalten sie mit ihren Gebäuden und ihrem Abfall. Sie zwingen sie, zur Unzeit zu gebären und wenn sie dadurch unfruchtbar geworden ist, geben sie ihr Medizin, damit sie wieder gebärt. All das ist Frevel. (1)

Sein quälendes Schuldgefühl beschwichtigte der Mensch früher durch Menschenopfer. Zum Beispiel durch Bauopfer: Ein Kind wird im Fundament einer Burg eingemauert, mit deren Bau der Mensch in die Natur eingreift (2). Oder ein Brückenopfer. Setzt sich der Mensch durch den Bau einer Brücke über ein naturgegebenes Hindernis hinweg, um auf neues Territorium vorzudringen, verlangt der erzürnte Flussgott einen Menschen als Opfer zur Beschwichtigung wegen der Über-tretung. Pontifex, ein altes lateinisches Wort  für den Priester (und heute eine Bezeichnung für den Papst) bedeutet eigentlich Brückenbauer, denn wer eine Brücke baute oder ihren Bau leitete, musste zugleich Priester sein, also für den Kontakt mit den Göttern und ihre Beschwichtigung durch Opfer zuständig sein (3). Zur Natur gehören auch Krankheit und Tod, denen alle Lebewesen unterliegen. Nur der Mensch überschreitet auch hier Grenzen, die die Natur ihm setzt - das oben zitierte Chorlied zählt unter die Übergriffe, deren sich der Mensch schuldig macht, auch die lebensrettende und lebensverlängernde Medizin:

doch für heilloser Krankheit Pein
fand er Hilfe.

Verglichen mit heute steckte die Medizin damals, als die Antigone gedichtet wurde, noch in den Kinderschuhen, war zum größten Teil Naturheilkunde, trotzdem verursachte die Anwendung ihrer bescheidenen Möglichkeiten schon Schuldgefühle - wie der Bau eines Hauses oder einer Brücke oder die Überquerung eines Meeres zu Schiff - immer werden naturgegebene Grenzen verletzt. "Debemur morti nos nostraque" - dichtet Horaz (4). "Wir Menschen und unsere Werke werden dem Tod geschuldet". Oder: "Wir und unsere Werke sind dem Tod verfallen". Was Horaz mit "unseren Werken" meint, ist klar, weil er Beispiele anführt: Ein Hafenbau, der ein Stück der Naturgewalt Meer einschließt und zähmt. Oder Ackerland, das durch Trockenlegung eines Sumpfes gewonnen oder durch Begradigung eines Flusses gesichert wurde - es sind Werke, durch die wir Menschen in die Natur eingreifen, sie uns gefügig machen und Schuld auf uns laden. Und da Krankheit und Tod zur Natur gehören, ist auch schon die Heilung eines Fieberkranken durch Kräuter solch ein Eingriff, der archaische Schuldgefühle erregt - welch maßloser Frevel wäre für einen Sophokles unsere heutige Praxis der Lebensverlängerung mit den ungeheueren Möglichkeiten unserer modernen Medizin. Kaum ein antiker Mensch hätte sie so pathetisch als Errungenschaft gefeiert, wie das zum Beispiel Schirrmacher in seinem Bestseller Das Methusalem-Komplott tut:

Das ist der biologische Triumph unserer Generation. Wir haben keine Länder erobert, wir haben Lebenszeit erobert. "Stellen Sie sich diese Jahre als Ressource vor", schreibt der amerikanische Kulturkritiker Theodore Roszak, "eine kulturelle und spirituelle Ressource, die wir dem Tod abgerungen haben, wie die Holländer fruchtbares Land dem öden Meer entrissen haben."  (5)                                                                         (S. 34)       

Wie antike Menschen das empfanden, war archaisch. Aber Archaisches steckt in den Tiefenschichten unserer Seele noch heute. Unsere Langlebigkeit, die wir heute Krankheiten und Tod abringen, empfinden wir nicht nur als Segen, sondern - meist unbewusst - auch als Schuld und Fluch, als Über-tretung naturgegebener Grenzen, als Übergriff auf neues Territorium, als Imperialismus. So erregte der englische Schriftsteller Martin Amis Anstoß, als er, verstört von der Vergreisung, die auch auf Großbritannien ihre Schatten wirft, Anfang 2010 in der Sunday Times schrieb:

There’ll be a population of demented very old people, like an invasion of terrible immigrants, stinking out the restaurants and cafes and shops. I can imagine a sort of civil war between the old and the young in 10 or 15 years’ time.

Für Amis sind sie eine "Invasion" von "Einwanderern". Also stellt er sich die dem Tod abgerungenen Lebensjahre als erobertes Territorium vor - sonst funktioniert sein Bild nicht. Zur Vorstellung von Lebensverlängerung als gewaltsame Eroberung gehört auch militärische Metaphorik, wie sie Schirrmachers Methusalem-Komplott durchzieht, das die Leser dazu aufruft, um jeden Preis uralt, möglichst weit über 100 zu werden:

Wir sind wie Teilnehmer eines Expeditionskorps, das angegriffen und belagert und verfolgt wird, der Feind steht uns im Rücken und im Angesicht, und vor uns liegt unbekanntes graues Terrain.                                                                                            (S. 32)

Schon die ersten Sätze des Buchs mobilisieren mit soldatischem Appell:

Sie wissen es zwar noch nicht: aber Sie gehören dazu. Da Sie imstande sind, dieses Buch zu lesen, zählen Sie zu denjenigen, denen der Einberufungsbescheid sicher ist. Die große Mobilmachung hat begonnen. Im Krieg der Generationen sind sie dabei. Sammeln Sie sich und seien Sie getrost: Sie gehören auf die Seite der Menschen, denen es in den nächsten Jahrzehnten aufgegeben ist, eine Revolution anzuzetteln.

Und weiter unten (S. 155):

Unsere Mission ist es, alt zu werden.  ...  Und Sie müssen lernen, was es heißt, 70, 80 oder auch 90 Jahre alt zu werden, ohne dabei zu verstummen. ...  Es wird viele geben, die Ihnen Fahnenflucht und Desertion, zum Beispiel den Freitod, anbieten werden. Während Sie Sport treiben, sich gesund ernähren und Ihre Altersvorsorge in die eigene Hand nehmen, sind die Bücher und Aufsätze schon geschrieben, die begründen, warum es moralisch gerechtfertigt sein kann, Sie im Alter zu töten.

Wer Sterbehilfe anbietet wie Kusch, ist ein Wehrkraftzersetzer, der zu Fahnenflucht verlocken will - dieser Vergleich verrät, dass Schirrmacher die von ihm propagierte Langlebigkeit um jeden Preis nicht (nur) als romantisches Abenteuer, sondern als Kraftanstrengung sieht, die Zähnezusammenbeißen erfordert, zu der soldatischer Geist Not tut. Als Kraftanstrengung, die sportlichen Geist verlangt, erscheint es bei Peter Radtke, einem schwerbehinderten Mentor der Behindertenbewegung, der Euthanasie als Dammbruch ablehnt:

Immer stärker verfolgt mich in letzter Zeit ein albtraumartiges Bild: Ein paar Kanuten paddeln verzweifelt die Strömung eines Flusses hinauf. Sie kommen nicht voran. Vielmehr treibt sie die Gewalt des Wassers immer weiter flussabwärts, zu den Stromschnellen, die ihr Schicksal sein werden. So könnte es auch den Mahnern vor der Gentechnologie, der Neo-Euthanasie und der unbeschränkten Verfügung über das eigene Leben gehen.                     (6)

Auch in diesem Bild erscheint der Mensch als Eindringling in unberührte oder noch wenig berührte Natur. Die Kanuten wollen ein Wildwasser bezwingen und haben sich gefährlich weit vorgewagt, haben lebensgefährliche Stromschnellen überwunden, die gleichwohl bedrohlich bleiben und sich einen der ehrgeizigen Kanuten als Opfer holen könnten; aus dieser Metaphorik spricht das - dem Autor wohl unbewusste - archaische Schuldgefühl, das Alt und Jung,  Behinderte und Nichtbehinderte seit Urzeiten nicht in Ruhe lässt. Aber noch Folgendes:
Vorstellungen, die sich einem Menschen aufdrängen, in Gestalt von Träumen oder unabweisbaren Ideen, haben laut C.G.Jung (7) oft kompensatorische Funktion, das heißt, das Unbewusste schickt sie, um eine falsche, einseitige Einstellung des Bewusstseins zu korrigieren. Das archaische Schuldgefühl würde Radtke nicht mehr mit solchen Vorstellungen zusetzen, wenn er von seinem Fanatismus loskäme, das heißt, wenn er aufhören würde, seine Einstellung in punkto Sterbehilfe als Alleinseligmachende anderen Menschen aufzuzwingen, die unter dem Druck aussichtslosen Siechtums nicht mehr wollen, müde sind, gegen den reißenden Strom anzukämpfen, und sich fallen lassen. Peter Radtke, eine Kämpfernatur, von dem sich viele Zeitgenossen dieser weichlichen Zivilisation eine Scheibe abschneiden könnten, fühlt sich immer wieder wie solch ein Kanute, der gegen Krankheit, Tod und Verzweiflung ankämpft, und solch eine Einstellung ist legitim und ehrenhaft. Aber andere Haltungen sollen nicht verteufelt werden, wie der Autor das zum Beispiel mit dem Begriff "Neo-Euthanasie" tut, der Menschen, die für Sterbehilfe sind, als Nazi-Wiedergänger diffamiert (8) - solche Einseitigkeit wird vom Unterbewusstsein korrigiert.

Zurück zu Schirrmacher! Im Widerspruch zu dem soldatisch-kämpferischen Pathos stehen in seinem Buch negativ konnotierte Begriffe wie "anzetteln", "Komplott" im Titel, und viele andere, die ein unbewusstes Schuldgefühl verraten. Aber führen wir uns noch einige Zitate zu Gemüte:

Gleichzeitig entsteht biologische Schuld. Die Natur löscht denjenigen aus, der keine Kinder mehr in die Welt setzen kann. Sie investiert nichts mehr in das Lebewesen, das, wie der Alte in der Ökonomie, nur noch von Rücklagen lebt. Die Schuldensumme des Körpers ist am Ende so groß, dass der Mensch stirbt. Schließlich die symbolische Schuld, in der beide Aspekte zusammenfallen. Wenn unser Leben nur Geld kostet und wir zu alt sind, um von der Natur am Leben erhalten zu werden, stellt sich die nahe liegende Frage, ob die Gesellschaft uns noch mit Prothesen und Operationen erhalten will. Übersetzt heißt das: Fragen der Euthanasie, aber auch des von Schuldgefühlen getriebenen Freitods sowie der Kosten von Leben und Tod werden ganze Kontinente in Atem halten.                                           (S. 89)

Deshalb redet bei den Fragen unserer Reparierbarkeit im Alter nicht ein junger Politiker oder ein 69-jähriger Ethiker aus den USA. Es ist das Kreuzverhör der Natur selbst, das wir hören und das uns in den nächsten Jahrzehnten wie ein ewiges Schuld- und Anklagegefühl in den Ohren dröhnen wird.                                                                         (S. 131)

Dem Tod immer mehr Macht entreißen, ja ihn ganz besiegen - darum geht es auch im Frankenstein-Mythos. Jeder kennt die Filme, viele die literarische Vorlage: Mary Shelleys Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus. Leider fehlt in den klassischen Verfilmungen die Nordpol-Handlung des Romans, also die Parallele: Der Naturforscher Frankenstein, der in den Machtbereich des Todes vordringt, gleicht dem Polarforscher Walton, der - im Zeitalter der Kolonialisierung des Planeten, als alle weißen Flecken auf den Landkarten getilgt werden - in die Arktis vordringt, in einen Bereich der Natur oder Mutter Erde, der unzugänglich, abweisend, eine letzte unberührte, jungfräuliche Stelle geblieben ist. Der Arzt Frankenstein und der Polarforscher Walton sind beide Bahnbrecher ins Verbotene - Frankenstein kostet es Menschenopfer (9): jene seiner Angehörigen, die das Monster ermordet, denn sein Vorstoß zur Entmachtung des Todes (9a), wodurch er den Menschen gottgleich machen will, ist Hybris, und unsere moderne Langlebigkeit ist solch eine Hybris in kleinerem Ausmaß - findet jedenfalls das archaische Gewissen, das immer noch in unserer Seele weiterlebt und nicht mit sich spaßen lässt. Der Rigorismus, mit dem Euthanasiegegner das Bürger- und Menschenrecht auf einen selbstbestimmten Tod bekämpfen, wird wohl erst als Abwehrmechanismus, als Gegenreaktion  auf dieses archaische Gewissen verständlich, das als Moloch in jeder unserer Seelen sitzt, ein Baal, der Menschenopfer fordert und nicht gefüttert werden darf, denn schon das kleinste Nachgeben, jeder einzelne durch Sterbehilfe ermöglichte Freitod, so selbstbestimmt er auch sein oder erscheinen mag, lässt ihn Blut lecken und macht ihm Appetit auf mehr, statt ihn zu beschwichtigen, wäre ein Dammbruch, der ihn stärker und gieriger macht - archaisches Schuldgefühl und archaische Opferbereitschaft stecken in jedem von uns, so dass Schirrmacher in einem Artikel über Frau Schardt, die sich von Roger Kusch zum Freitod verhelfen ließ, erschrocken warnt:

Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch hat vor vielen Jahren vorhergesagt, dass die westlichen Gesellschaften eine „Angleichung der Ethik und der Psychologie des Sterbens an den Stand der medizinischen Technik“ leisten werden. Aber auch er, eigentlich ein Befürworter des begleiteten Selbstmords, sah angesichts der alternden Gesellschaft voraus, dass daraus ein Imperativ des Sterbens werden könnte. „Denkbar ist, dass der Appell zum süßen und ehrenvollen Sterben (10) einmal anstatt militärisch an die Jugend gerontologisch an die Alten gerichtet und - sofern genügend sozialer und moralischer Druck vorhanden ist - ähnlich konformistisch befolgt werden könnte wie 1914.“ Das Jahr 2014 ist nicht weit. Kusch sollte als Ideologe des neuen Kriegs nicht gewinnen dürfen. Frau Schardt hat eine Botschaft. Wir sind nicht ihr Publikum.

Ja, es ist ein mächtiger Gott, vor dem uns zu Recht schaudert, dieses archaische Gewissen, als dessen dämonischer Priester und Prophet Roger Kusch von unserer Angst gemalt wird. Dieses Gewissen verurteilte und quälte uns schon, als wir ein wenig zivilisiert wurden, indem wir zum Ackerbau übergingen. Dass wir uralte Wälder abholzen und auf der gerodeten Fläche Mutter Erde mit der Flugschar verletzen, um sie auszubeuten, bereitete unseren Vorfahren Schuldgefühle, die sich nur mit Menschenopfern beschwichtigen ließen. Aber ohne solchen Frevel würden wir noch auf den Bäumen leben, Würmer als Nahrung nicht verschmähen, hätten keine Akropolis, keinen Beethoven, keinen Shakespeare hervorgebracht, würden wir ab 13, 14 Jahren Vater oder Mutter Jahr für Jahr, und wenn unsere Kinder flügge sind, überflüssig werden und sterben - auf der Emanzipation von der Natur gründen unser Menschsein und unsere Würde, wozu auch die immer größere Ausdehnung unserer Lebenszeit gehört, die mit dem Ackerbau begann, schon von Sophokles und Aischylos unter prometheischen Frevel gezählt wurde und heute noch nicht endet. Doch dem Menschen sind Grenzen gesetzt. Darin unterscheidet er sich von Gott. Auch wir werden an Grenzen stoßen. Demografie und beschränkte Mittel setzen sie uns. Rente, medizinische Versorgung und Pflege in dem Ausmaß, wie wir sie als selbstverständlich fordern, werden in den nächsten Jahren immer schwerer bezahlbar - und wenn die Babyboomer, also auch ich, in 25, 30 Jahren pflegebedürftig werden, könnte das System, unsere bisherige Lebensweise, vollends zusammenbrechen.

Gut gegen Hybris, die keine Grenzen anerkennt, ist Bescheidenheit - deshalb möchte ich zu einem der imposantesten imperialistischen Staaten kommen: das Römische Reich. Als es seine größte äußere Ausdehnung erreicht und den Zenit seiner inneren Kraft bereits überschritten hatte, begann eine Politik der Mäßigung: Man verzichtete darauf, Armenien und Mesopotamien, die man eben erobert hatte, zu halten, und später gab man die Provinz Dakien (das heutige Rumänien) wieder auf und noch später Britannien. Wahrscheinlich warnten damals aufgebrachte Stimmen, deren Argumente an die der heutigen Sterbehilfegegner erinnern: Weichen wir in Dakien, ist es ein Dammbruch, eine Ermunterung der Barbaren, in weiteren Provinzen einzufallen! Aus heutiger Sicht seht fest: Der Zusammenbruch der römischen Zivilisation, deren Volkskraft und Machtmittel zurückgingen, wurde dadurch nicht beschleunigt, sondern für längere Zeit aufgehalten. Triumphbögen, Aquädukte, Hafenanlagen, Paläste, laut Horaz dem Tod geweiht, Römerstraßen und Gartenanlagen, dazu bestimmt, von der Natur zurückerobert, überwuchert zu werden, das alles verfiel, aber erst viel später. Zu dieser Politik des Maßes und der Bescheidenheit, die den Untergang hinausschob, gehörte auch, dass man die ins Reich drängenden germanischen Barbaren nicht nur abzuwehren versuchte, sondern einen Teil von ihnen aufnahm. Die urkräftigen Neubürger stützten so noch lange das morsche Reich, indem sie taten, was die dekadenten Römer immer weniger vermochten oder wollten: Sie hatten viele Kinder, bestellten aufgegebenes Ackerland im Schweiße ihres Angesichts und verteidigten mit ihrem Blut die Zivilisation an den Grenzen. Dass viele von ihnen Parallelgesellschaften bildeten, lernte man zu ertragen. In beidem folgen wir den Römern nach, in beidem fahren auch wir solch eine Politik der Bescheidung - geben wir es doch zu, blicken wir der Realität ins Auge! Die 2003 von Rot-Grün ins Werk gesetzte Reform namens Agenda 2010 vermindert auch die Leistungen der Krankenkassen und dürfte die Ausdehnung der Lebenserwartung, des Neulands, das wir der Natur (deren Teil der Tod ist), abkämpfen, zumindest dämpfen. Und dass wir ein Einwanderungsland geworden sind, zu der Erkenntnis hat sich auch die CDU durchgerungen. So wird sie sich auch zu einer Legalisierung oder zumindest Duldung der Sterbehilfe durchringen - dazu noch ein Wort:

Sterbehilfe ermöglicht einen selbstbestimmten Tod und ist daher ein Menschenrecht. Mit Demografie und wirtschaftlichen Sachzwängen sollte sie nichts zu tun haben. Wäre die Sterbehilfe in der BRD zeitig durchgesetzt worden wie in den Niederlanden oder der Schweiz, wäre es ein Triumph des Fortschritts und der Freiheit gewesen: Ein weiteres Menschenrecht, ein weiteres Stück Emanzipation wäre erkämpft worden. So, wie sich jetzt ihre Einführung in der BRD abzeichnet, wahrscheinlich mehr geduldet als legalisiert, wird es weniger als Triumph gefeiert, sondern eher als Niederlage empfunden werden, als Kleinbeigeben vor dem Druck von Demografie und verminderten Ressourcen, eine schwere Kränkung für unser Selbstwertgefühl - der Moloch leckt sich die Lippen, durch Bescheidung können wir seinen (totalitären) Machtantritt hinausschieben, vielleicht sogar verhindern. Der Westteil des Römischen Reiches ging zu Beginn des Mittelalters unter, der Osten blieb noch lange bestehen, obwohl Slawen und Moslems ihm hart zusetzten. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert, wahrscheinlich als Reaktion auf den Arabersturm, gingen Stadtkultur und urbaner Luxus auch im Byzantinischen Reich zurück, die Oströmer wurden bescheidener und erlebten so noch das ganze Mittelalter hindurch eine oft glanzvolle Zeit - nicht mehr als Supermacht, aber noch lange als Großmacht. Und sie hatten noch historische Missionen zu erfüllen: den Russen und anderen das Christentum zu bringen zum Beispiel.
Auch wir müssen bescheidener werden, wenn wir noch eine Zukunft haben wollen. Ein prekärer Bereich unter vielen ist die Krankenversorgung. Die Kosten dafür wachsen uns über den Kopf, wenn wir uns nicht bescheiden. Wäre es denn eine arge Kränkung für unsere Beamten im Ruhestand, wenn die fetten Pensionen nur noch 11 mal statt 12 mal im Jahr ausbezahlt würden, um mehr Geld für Krankenversorgung und Pflege übrig zu haben? Aber wie soll unsere Gesellschaft bescheidener, also weniger materialistischer werden, wenn es schon für viele Heranwachsende eine Kränkung bedeutet, nicht in Markenklamotten ins Leben hinauszutreten. Es kann einen schaudern, wenn man sich mit spätrömischer Geschichte und Dekadenz beschäftigt und feststellt, dass die reiche Oberschicht sich angesichts des drohenden Zusammenbruchs viel zu langsam zu Abstrichen an ihrem maßlosen Luxus durchrang. Auch wir machen viel zu zögerlich Abstriche. Zum Beispiel an unserer Idealvorstellung vom Arzt als Halbgott in Weiß. Fremd klingt noch die
Einsicht eines Menschen, der gewiss kein Zyniker und nicht für Sterbehilfe ist: "Ärzte sind schon lange keine Halbgötter in Weiß mehr, sondern eine Mischung aus übermüdeten Schichtarbeitern, weißbekittelten Krankenhausmanagern und Selbstständigen mit meist unzureichender Kapitaldecke."
Die Vorstellung vom Halbgott in Weiß hat ja etwas Religiöses - aber ist es nicht Aufgabe einer Religion, den Menschen dazu zu bringen, seine Endlichkeit zu akzeptieren, statt mit gottähnlichem Ehrgeiz die Front zu halten bis zum Gehtnichtmehr? "Militaristen" wie Schirrmacher möchte ich aus der Sicht des Historikers Folgendes zu bedenken geben, was sich schon in den nächsten Jahren bestätigen wird: Auf Teufel komm raus die Front gegen den Feind (den Tod) halten zu wollen, ist oft kontraproduktiv, schwächt die eigene Position und stärkt die des Feindes. Heilsam dagegen ist oft eine Frontverkürzung durch taktischen Teilrückzug, wenn man die so eingesparten oder geschonten Kräfte (Krankenschwestern als Soldaten, Ärzte als Offiziere, hochgerüstete Apparatemedizin als Waffen/Gerät) an anderen Stellen der Front einsetzt. Solch eine Frontverkürzung wird auch die Zulassung oder Duldung der Sterbehilfe sein, wenn ein hoffnungslos Schwerkranker sie freiwillig, aus sich heraus (11), nach reiflicher Überlegung und über einen längeren Zeitraum dringend verlangt. Sterbehilfe, die unter Druck von außen akzeptiert würde, muss verboten bleiben. Erstere ist freizugeben wie ein unrecht okkupiertes Territorium, letztere ist abzuwehren als Angriff auf die Menschenwürde, die immer Kernland, von den Vorfahren erkämpft und weitervererbt, ureigen und unantastbar ist.

März 2010 (ergänzt 2011)


1) Charles A. Eastman: Indian Heroes and Great Chieftains (Reprint 1991. Originally published: Boston 1918), Kapitel 7: Sitting Bull 

2) Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Artikel Bauopfer

3) In ponti-fex steckt pons, pontis "Brücke", das mit russisch путь/put' "Weg" verwandt ist. Eine Brücke ist ja ein spezieller Weg: über einen Abgrund oder Fluss. Aber jeder neue Weg, den sich der Mensch durch unwegsames Gelände, durch Urwald oder Sumpf bahnte, war ein Eingriff in die Natur, diente der Urbarmachung, also Eroberung neuen Landes, was Schuldgefühle verursachte. Vielleicht war die älteste Bedeutung von pontifex "Wegebahner, Bahnbrecher".

4) De arte poetica 63ff.

5) Wer Theodor Storms Schimmelreiter gelesen hat, wird sich vielleicht erinnern, dass die Naturgewalt Meer, erzürnt, weil ihr Ackerland abgerungen wurde, dafür Menschenopfer fordert: Frau und Tochter des Deichbauers Hauke Haien. So spiegelt sich das schlechte Gewissen von Menschen, die in die Natur eingreifen. Dazu wikipedia, Artikel Schimmelreiter:  "Die Rituale der Deichbauern verlangen aber, dass "etwas Lebendiges" im Deich verbaut werden muss. Zuweilen hatte man früher Zigeunern Kinder abgekauft und diese lebendig in den Sandmassen begraben. Doch Hauke untersagt diesen Brauch beim Bau seines neuen Deiches: Als die Arbeiter einen Hund eingraben wollen, rettet er diesen, und so sehen viele einen Fluch auf diesem Deich lasten." Was in ältesten Zeiten Aufgabe des Pontifex war, ist dem aufgeklärten Hauke Haien fremd, ja er weist es von sich.

6) Peter Radtke: Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden. München 2007, S. 18

7) C.G.Jung: Die transzendente Funktion. In: Gesammelte Werke Bd 8

8) Zumindest in die Nähe rückt: Falls er, um Trennschärfe bemüht, mit Neo-Euthanasie nicht das meint, wofür Kusch wirkt, sondern das, wofür Singer steht, so nennt er es trotzdem in einem Atemzug!

9) wie Hauke Haien - vgl. Fußnote 5

9a) Verwandt mit Frankenstein ist Herakles, der wilde Natur, verkörpert unter anderem durch die Wasserschlange des Sumpfes Lerna oder den Löwen des Nemeischen heiligen Haines, bezwingt. Zu diesen Taten gehört sein Vorstoß in das Reich des Todes, von wo er den Höllenhund Kerberos und den Helden Theseus ins Reich der Lebenden entführt und dem Tod zur Buße seine Frau und seine drei kleinen Söhne opfern muss - so lässt sich Euripides' düsteres Drama Herakles deuten.

10) Dieser Appell und Imperativ wird nicht nur von außen, als gesellschaftlicher Druck, sondern auch von innen, aus dem eigenen Herzen vieler Schwerkranker kommen, denn der Trieb, sich für seine Gemeinschaft aufzuopfern, gehört zur menschlichen Natur, ist archaisch-barbarisches Seelenerbe, das noch heute wirkt, zum Beispiel Selbstmordattentäter in den Tod treibt.

11) Aber siehe auch Fußnote 10! - Archaisch-barbarisches Seelenerbe kann wieder wirksam werden - gehört es zu uns oder ist es des Teufels? Gehört es zu einer zivilisierten Persönlichkeit dazu? Darüber muss philosophiert werden!


   
 
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