Noch eine Dolchstoßlegende: Wulff ist mitschuld an Demenz
Wulff wird gemobbt. Was in einer Schulklasse, Belegschaft oder Hausgemeinschaft gang und gäbe ist, passiert auch in einer Medienlandschaft. Solches Mobbing ist besonders empörendes Unrecht, das zornige junge Männer wie Wallraff in die Höhle des Löwen trieb, um dagegen anzugehen. Wer alt und realistisch geworden ist, wird sich nicht mehr darüber aufregen, dass BILD jetzt Wulff zum Opfer bestimmt hat, aber vielleicht wie ich darüber stolpern, wenn auch besonnene Medien mitmachen. Zum Beispiel die FAZ am 11. Januar 2012.
Aufhänger der Glosse Gedankenflucht ist eine Äußerung, die der Bundespräsident intern unter Mitarbeitern getan hat und die durch gezielte Indiskretion den Medien zugespielt wurde: Das Theater um ihn werde "in einem Jahr vergessen" sein. Wulff - so die Glosse - setze also auf allgemeine Vergesslichkeit, auf ein "pflaumenweiches Kollektivgedächtnis", das aus demographischen Gründen noch weicher werde und ihm so in die Hände spiele: dank der Volkskrankheit Demenz:
Eine Art kognitiver Klimawandel fegt durch die Gesellschaft. Das Volk ist in Angst vor der Demenz. Frühwarnsysteme werden installiert. Am Klinikum Darmstadt will man schon bei jungen Leuten Ablagerungen von Tau-Proteinen - typisch für Alzheimer-Gehirne - in der Nase suchen. In Leipzig wiederum sucht man mit Hirnscans an einem Knotenpunkt im Stirnhirn nach frühesten Spuren von Demenz. Und der Bundespräsident? Er taktiert und gibt sich als Hohepriester der Gedankenflucht, statt, wie es seines Amtes wäre, unsere Kultur im Kampf gegen den kognitiven Werteverfall zu unterstützen. Das ist glatte Fahnenflucht.
Wulff wird als Profiteur der Demenz denunziert, ja sogar als ihr Mitverursacher, ihr Förderer:
Mit der Hoffnung auf Vergessen wird seit Menschengedenken Politik gemacht. Ehrenrührig wird es erst, wenn er uns gewöhnlichen Bürgern damit ein pflaumenweiches Kollektivgedächtnis unterstellen würde. Das wäre schon moralisch fragwürdig, weil er damit die Ausübung seines Amtes mit der Prämisse versieht, dass die gemeinschaftliche Gedächtnisschwäche seinen politischen Zielen in die Hände spielen könne und deshalb also auch zu befördern sei.
Der Schlossherr im Bellevue - will der Artikel suggerieren - lacht sich ins Fäustchen, wenn der alternde Leser der FAZ wieder einmal vergesslich war und sich voller Angst fragt, ob es schon Demenz ist. Der Gemobbte ist zugleich Sündenbock. Er soll nicht nur als Marionette der Superreichen, der Unternehmer und Banker vorgeführt werden, denen allein die Schuldenkrise angelastet wird, für die wir doch alle verantwortlich sind, weil wir jahrzehntelang über unsere Verhältnisse gelebt haben. Die FAZ probiert im Ressort Natur und Wissenschaft schon mal aus, ob man so einem Sündenbock auch noch die Zivilisationskrankheit Demenz aufbürden kann, oder bin ich paranoid und habe die feine Ironie in der Glosse nicht bemerkt? Man kann es aber auch ein wenig unheimlich finden - bemerkt Jan Fleischhauer zu Recht.