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Die gestundete Zeit

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.
Bald musst du den Schuh schnüren
und die Hunde zurückjagen in die Marschhöfe.
Denn die Eingeweide der Fische
sind kalt geworden im Wind.
Ärmlich brennt das Licht der Lupinen.
Dein Blick spurt im Nebel:
die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

Drüben versinkt dir die Geliebte im Sand,
er steigt um ihr wehendes Haar,
er fällt ihr ins Wort,
er befiehlt ihr zu schweigen,
er findet sie sterblich
und willig dem Abschied
nach jeder Umarmung.

Sieh dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!

Es kommen härtere Tage.

Thema des Gedichts ist Aufbruch. Aufbruch in eine Welt, die nicht anheimelt und nicht lockt, denn der Aufbruch ist schon so lange es geht hinausgezögert worden, eine weitere Stundung der Frist ist nicht mehr möglich.
Symbol für Aufbruch aus Geborgenheit in eine widrige, Verletzungen bereit haltende Umwelt sind die Fische, die - wie man sich vorstellen kann - auf einem Markt in Küstennähe (Marschland!) aufgeschnitten (ihre Eingeweide sind dem Wind ausgesetzt) zum Verkauf liegen. Sie sind nicht mehr in ihrem Element, dem Meer. Wesen, die im Wasser leben und es verlassen müssen, symbolisieren oft das Ende der Kindheit, für die die Unterwasserwelt archetypische Symbolik ist.
Das im Gedicht angesprochene Du, das zum Aufbruch verurteilt ist, muss sich losreißen, muss die Hunde, die Freunde von uns Menschen sind, die an uns hängen und an denen wir hängen, zurückjagen, muss also zu den Gefühlen kreatürlicher Liebe, die uns binden, festhalten wollen, gnadenlos sein.
Unter der Geliebten, die dem Du im Sand versinkt, kann man sich dessen Mutter vorstellen. Denn Kindheitsende bedeutet Verlassen der Mutter oder doch Distanz zu ihr, und die Geborgenheit, die aufgegeben werden muss, wird ja von der Mutter als mütterlich-weiblichem Prinzip gespendet, während das Prinzip, das streng zum Aufbruch hinaus ins Erwachsenenleben drängt, das männlich-väterliche ist, so dass man sich unter dem Sand, dem das scheidende Du die Geliebte überlassen muss, ja der sie ihm regelrecht wegnimmt, den Vater vorstellen kann. Dazu passt das männliche Genus des Sandes und dass er zwischen dem Aufbrechenden und dem Element, das den Kinder-Fischen Geborgenheit gewährt hat, dem Meer, steht. Der Vater steht zwischen Mutter und Sohn; die Dreierbeziehung zwischen ihnen, der der Ödipus-Konflikt zugrundeliegt, ist von Rivalität zwischen Vater und Sohn um die Mutter geprägt. Im Gedicht ist der Sohn, der seine Mutter zurücklassen muss, der Verlierer. Der Vater-Sand umarmt sie, liebt sie also allein, ohne Konkurrenten, und lässt sie in dieser Umarmung für den Sohn verschwinden, ist also aus der Sicht des Sohnes zugleich der Tod, der sein Opfer allegorisch umarmt. Sand ist ja auch etwas Rinnendes, Wegrinnendes, das an das Verrinnen der Zeit gemahnt, Vergänglichkeit und Tod symbolisiert. Der Verlust der Mutter oder schon größere Distanz zu ihr lässt uns vielleicht am stärksten die Vergänglichkeit von allem, was wir lieben, spüren. Eine andere Frau, die der Sohn sich in dem feindlichen Leben, in das er aufbrechen muss, als Ersatz für seine Mutter erkämpfen könnte, ist nicht einmal als Hoffnungsstreifen am Horizont in Sicht und wird in dem Gedicht, dessen Grundstimmung Hoffnungslosigkeit ist, erst gar nicht erwähnt. Und die Herzlosigkeit, mit der in der ersten Strophe die Hunde und die von ihnen ausgelösten Gefühle abgewiesen werden, soll in der letzten Strophe dem Kind, das in dem Du steckt und durch die Fische verkörpert wird, entgegengebracht werden. Das Du soll das Kind in sich, das schon abgetötet ist (seine Eingeweide sind kalt geworden), auch noch aus sich herausreißen und verschwinden lassen, im Meer versenken, gleichsam auch noch begraben, damit der Aufbruch ins Erwachsenenalter vollständig wird (Wenigstens ist dann das Fisch-Kind wieder - wenn auch tot - seinem Element zurückgegeben und wird nicht in das von Gemeinheit geprägte Erwachsenenleben hineingezogen).

   
 
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