ZU CHAOS,
NACHT, SCHLAF UND WASSERTIEFE BEI TJUTSCHEW. INTERPETATION SEINER GEDICHTE СОН НА МОРЕ, КАК ОКЕАН ОБЪЕМЛЕТ… UND ЛЕБЕДЬ
Nacht, Schlaf und Träume gehören in Tjutschews Lyrik zur Welt
des Unheimlichen. Sie sind Chaos, das die Macht der Vernunft bedroht, Abgrund,
der zugleich abschreckt und lockt, gefährliche Wassertiefe, in der man
Verborgenes entdecken, aber auch ertrinken kann. Aus psychoanalytischer Sicht
lässt sich diese Welt als Symbol für das Unterbewusstsein, den dunklen
Untergrund der menschlichen Seele, deuten. Das tut zum
Beispiel Richard A. Gregg: „… we have noted that Tiutchev’s discovery of a
‚night soul‘, filled with ‚sleeping storms‘, which his conscious self fears and
tries to suppress, has identified a region of the human personality which bears
the essential earmarks of the subconscious. … Tiutchev seldom failed to
associate chaos in some way or other with the sleeping or unconscious
state. … In the early As the Ocean Embraces the Earthly Sphere
the poet describes the unconscious world of dreams through such ‘chaotic’
expressions as ‘abyss’ and ‘immensity of dark waters’. In Dream at Sea it is a ‘chaos of sounds’ which helped stultify the
poet and open the way for his dream” (1). Gregg zitiert Freud, der das Unterbewusstsein als “ein Chaos,
einen Kessel voll brodelnder Erregungen” beschreibt (2).
Als das Unterbewusstsein deuten auch wir Chaos, Nacht, Schlaf und Wassertiefe
bei Tjutschew, allerdings weniger aus der Sicht von Freud, der das
Unterbewusstsein auf das reduziert, was es auch, aber nicht nur ist: Reservoir
verdrängter tabuisierter sexueller Wünsche, und zwar hauptsächlich des Wunsches
nach Inzest. Unsere Deutung fußt hauptsächlich auf der analytischen Psychologie
C. G. Jungs. Im Licht seiner Lehre sei das Unbewusste zuerst ausführlicher
dargestellt, bevor wir uns an die Interpretation der Gedichte machen.
Durch Bewusstsein und Verstand unterscheidet sich der Mensch
vom instinktgeleiteten Tier und vermag die Natur zu überlisten, zu beherrschen
und auszubeuten. Das Bewusstsein, das den Menschen über die Tierwelt erhebt,
war ihm nicht von Anfang an gegeben, sondern hat sich allmählich aus seiner
unbewussten Tierseele heraus entwickelt. Das Unterbewusstsein ist das
Ursprüngliche, Primäre, das Bewusstsein etwas später Hinzugekommenes,
Sekundäres – das ist für unsere Sicht wichtig und wird auch durch eine
Grunderkenntnis der Biologie bestätigt, die man biogenetische Grundregel nennt; sie lautet:
Die Ontogenese
rekapituliert die Phylogenese
Die Regel besteht aus drei Fremdwörtern. Was bedeuten sie?
Die Ontogenese ist
die Entwicklung eines einzelnen Wesens einer bestimmten Spezies, seine
Individualentwicklung. So lässt sich zur Ontogenese eines Frosches sagen: Er
lebt als Kaulquappe im Wasser, bevor er als Amphibie im Wasser und an Land
existiert.
Zur Ontogenese des Menschen lässt sich sagen: Er lebt vor seiner Geburt im
Wasser, und zwar im Fruchtwasser des Uterus, bewegt sich als Neugeborenes
zuerst gar nicht fort, dann auf allen Vieren als Krabbelkind und erst später
aufrecht auf zwei Beinen.
Rekapitulieren bedeutet wiederholen.
Die Phylogenese ist die stammesgeschichtliche
Entwicklungsgeschichte einer Spezies. Zur Phylogenese des Menschen ist –
vereinfacht – zu sagen: Er stammt vom Affen ab und seine ältesten Vorfahren
lebten im Wasser.
In der Ontogenese wiederholen sich Eigenschaften der
phylogenetischen Entwicklung. So bildet der ungeborene Mensch im Uterus Ansätze
von Kiemen und ein Fell aus, wiederholt also Merkmale seiner tierischen
Vorfahren, die ursprünglich im Wasser lebten und später Felle trugen. Von den Tieren unterscheidet sich der
Mensch auch durch seinen aufrechten Gang. Bevor aber das Kleinkind auf zwei
Beinen laufen kann, krabbelt es, wiederholt also die Fortbewegungsweise seiner
vierbeinigen Vorfahren. Das gilt auch für die Entwicklung von Bewusstsein und
Verstand. Der Säugling ist noch ganz unbewusst, Bewusstsein und ratio, die
Fähigkeit zu täuschen, sich zu verstellen, seine Umwelt auszutricksen und zu
manipulieren, hat das Kind nicht von Anfang an ausgebildet, sondern entwickelt
sie allmählich, zuerst nur für Augenblicke, wobei es sich die Erwachsenen zum
Vorbild nimmt:
Das
Unbewusste ist die schöpferische Mutter des Bewusstseins. Aus dem Unbewussten
heraus entwickelt sich Bewusstsein in der Kindheit, wie es in den fernen Zeitaltern
der Primitivität entstand, als der Mensch Mensch wurde. (3)
Da das Leben des Menschen anfangs unbewusst ist und im Wasser
beginnt, im Fruchtwasser des Uterus, sind Wasser und die Existenz in ihm
Symbole für das Unbewusste; das Gegenteil des Wassers, Festland, steht für das
Bewusstsein und die bewusste Existenz - dies ist archetypische Bildlichkeit,
die auch C. G. Jung gerne verwendet:
Im Kinde
taucht das Bewusstsein aus den Tiefen des unbewussten seelischen Lebens auf, zunächst wie einzelne Inseln, die
sich erst allmählich zu einem <Kontinent>, zu einem zusammenhängenden
Bewusstsein vereinigen. Der fortschreitende geistige Entwicklungsprozess
bedeutet Ausdehnung des Bewusstseins.
Mit dem Augenblick der Entstehung eines zusammenhängenden Bewusstseins ist die
Möglichkeit einer psychologischen Beziehung gegeben. (4)
Im Uterus ist es dunkel, deshalb sind Dunkelheit und Nacht -
griechisch Nyx = Nacht als göttliche Urpotenz - ebenfalls Symbole des
unbewussten Zustands, Tageshelle und Licht stehen dagegen für das Bewusstsein –
das Licht der Welt zu erblicken, also geboren zu werden, ist Voraussetzung für
die Entwicklung des Bewusstseins. Mit einer Laterne, durch die der Mensch seine
Umwelt besser erkennen und ausbeuten kann, vergleicht Wilhelm Busch deshalb
Bewusstsein und Verstand, während die Unbewusstheit der Tiere (und noch sehr
kleiner, naiver Menschenkinder) mit der Nacht, das heißt, mit Nicht-Sehen, mit
Blindheit gleichgesetzt werden kann:
Wie dunkel
ist der Lebenspfad,
Den wir zu wandeln pflegen.
Wie gut ist da ein Apparat
zum Denken und Erwägen.
Der
Menschenkopf ist voller List
Und voll der schönsten Kniffe;
Er weiß, wo was zu kriegen ist,
Und lehrt die rechten Griffe.
Und weil er
sich so nützlich macht,
Behält ihn jeder gerne.
Wer stehlen will und zwar bei Nacht,
Braucht eine Diebslaterne.
Für Wilhelm Busch ist das Bewusstsein nur ein Werkzeug, mit
dem der Mensch seine Triebe wie Hunger oder Durst besser befriedigen kann. Als
Werkzeug, nämlich als Waffe, sieht es auch Thomas Mann in seinem Essay Süßer Schlaf, und auch er
charakterisiert es mit einer Licht-Metapher: Mit dem Bewusstsein beleuchtet der
Mensch die Natur (um sie besser erkennen und beherrschen zu können):
Hält nicht
auch Darwin dafür, dass sich der Geist nur als Waffe im Daseinskampf entwickelt
habe? Eine gefährliche Waffe! Die sich, wenn keine äußere Not unsere Sicherheit
bedroht, nur allzu oft gegen uns selbst wendet. Wohl uns, wenn sie ruht, wenn
die grelle und zehrende Flamme die Welt um uns und in uns hinlänglich
abgeleuchtet und wir unserm eigentlichen und glücklichen Zustand uns wieder
überlassen dürfen!
„Auf-klär-ung“ wurde eine Bewegung von ihren Anhängern
genannt, die stolz auf ihre ratio waren und sie dem „finsteren Mittelalter“,
den „Dark Ages“ entgegensetzten. Dass dieser Begriff auf einer Licht-Metapher
beruht, wird deutlicher in seiner lateinischen und russischen Version:
„il-lumin-atio“ leitet sich von „lumen“,ab, „про-свещ-ение“ von „свет“.Die Geburt des menschlichen Bewusstseins aus der unbewussten
Tierseele spiegelt sich auch in der griechischen Mythologie; Hesiod schreibt:
Aus dem
Chaos gingen Erebos (finsterer Grund)
und die dunkle Nacht hervor, und der Nacht wieder entstammten Aither (Himmelshelle) und Hemere (Tag), die sie gebar, befruchtet von
Erebos‘ Liebe. (5)
Die Tageshelle, die für das Bewusstsein steht, kommt aus
ihrer Mutter, der Nacht, die älter und mächtiger als ihr Kind ist, und kehrt am
Abend in sie zurück, wenn die Sonne, die für den Lauf des menschlichen Lebens
steht, untergeht; das andere Elternteil, Erebos, ist die Finsternis des Hades,
der Unterwelt, wo die Toten tief im Schoß der Erde wohnen, also ebenfalls
weiblich. Die weibliche Urpotenz Nyx lässt sich von der weiblichen Todesnacht
begatten, um Licht und Bewusstsein hervorzubringen; keinen männlichen Gott hat
die Urmutter für diese Zeugung gebraucht, da das Weibliche allmächtig und das
Bewusstsein sein Geschöpf ist, dessen Leben es gibt und nimmt.
Das Bewusstsein taucht aus den dunklen Fluten des Unbewussten
auf wie ein Kind bei der Geburt aus dem Fruchtwasser – schon sehr früh bot sich
den Menschen als Analogie die Sonne, die am Morgen aus Nacht und Meer geboren
wird, die Tageshelle des Bewusstseins erzeugt, sich hoch erhebt und am Ende ihrer
Lebensbahn wieder im mütterlichen Meer versinkt wie ein Mensch, der stirbt. Man
kann im mütterlichen Unbewussten versinken, um für immer tot zu sein, aber
auch, um sich in seinem Schoß zu regenerieren, was C. G. Jung „Regression“
nennt, und verjüngt wieder ins Licht des Bewusstseins aufzusteigen:
… es ist
überdies die Mutter-Imago, die einerseits dem Helden zur größten Gefahr, aber
eben gerade dadurch auch zur einzigen Quelle seiner Taten und seines Aufstieges
wird. Sein Aufstieg bedeutet eine Erneuerung des Lichtes, und damit eine
Wiedergeburt des Bewusstseins aus der Verfinsterung, das heißt der Regression
ins Unbewusste. (6)
Oft wird das mütterliche Meer, in dem der Held versinkt, um
sich zu regenerieren, durch ein Seeungeheuer verkörpert, das ihn verschluckt
und aus dem er sich wieder herausarbeiten muss:
Es ist
leicht ersichtlich, was die Bekämpfung des Meer- oder Fischmonstrums bedeutet:
es ist das Ringen um die Befreiung des Ichbewusstseins aus der tödlichen
Umschlingung des Unbewussten. Darauf weist die Feuerbereitung im Bauche des
Ungetüms. Es ist ein gegen das Dunkel des Unbewussten gerichteter
apotropäischer Zauber. Die Errettung des Helden ist zugleich ein Sonnenaufgang,
nämlich der Triumph des Bewusstseins. (7)
Das Bewusstsein, dessen Macht der Mensch gern überschätzt,
ist Kind des Unbewussten, das älter, tiefer und mächtiger ist und das ihn
jederzeit wieder in sich einschlucken kann. Das geschieht zum Beispiel, wenn
jemand geisteskrank wird. Ihn nannte man früher „um-nachtet“, denn das finstere
Unterbewusstsein hat ihn verschluckt und umgibt ihn wieder wie eine Mutter ihr
ungeborenes Kind. Ins Unterbewusstsein kehrt ein Mensch auch zurück, wenn er in
Ohnmacht fällt, im Russischen heißt dieser Zustand „об-морок“: die Vorsilbe „об-„ bedeutet „um, herum“, bezeichnet
also das Umgeben wie zum Beispiel in „объ-нять = umarmen“, „морок“ bedeutet „Finsternis“ (als Polnoglasie-Form gehört es zu „мрак“ wie „город“ zu „град“).
Verwandt mit Wahnsinn ist der Schlaf, in den der Mensch versinkt, um sich zu
regenerieren. Den in beiden Zuständen wird die kontrollierende Macht des
Bewusstseins schwächer oder verschwindet ganz. Das weiß auch Goethe, der seinen
Helden Egmont im gleichnamigen Trauerspiel über den Schlaf sagen lässt:
Süßer
Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück ungebeten … und eingehüllt in gefälligen
Wahnsinn, versinken wir und hören auf zu sein. (V,2)
Wer schläft und träumt, befindet sich in einem ähnlichen
Zustand wie ein Mystiker, der Visionen hat, oder ein Geistesgestörter, der von Halluzinationen
heimgesucht wird, denn Träume, Visionen, Wahnvorstellungen sind die Sprache des
Unbewussten, die vom Bewusstsein nicht mehr durch Kontrolle und Zensur
unterdrückt werden können:
Der
Unterschied der psychischen Aktivität im Wachen und im Schlafzustand scheint
daher bedeutend zu sein. Im Wachen untersteht die Psyche anscheinend dem
bewussten Willen, im Schlaf dagegen erzeugt sie Inhalte, die fremd und
unverständlich wie aus einer anderen Welt in unser Bewusstsein hineinragen.
Dasselbe ist nun der Fall mit der Vision. Sie ist wie ein Traum, aber im wachen
Zustand. Sie tritt aus dem Unbewussten neben die bewusste Wahrnehmung und ist
nichts anderes als ein momentaner Einbruch eines unbewussten Inhalts in die
Kontinuität des Bewusstseins. Das gleiche Phänomen findet auch in der
Geistesstörung statt. Anscheinend ganz unvermittelt hört das Ohr nicht bloß die
Geräusche der Umgebung, die von außen kommenden Schallwellen, sondern es wird
von innen erregt und hört psychische Inhalte, welche keine unmittelbaren
Bewusstseinsinhalte des Subjekts waren. (8)
Ist die Macht des Bewusstseins reduziert, kann das, was durch
sie verdrängt gehalten wird, Sehnsüchte, Ängste, aber auch unterdrücktes Wissen,
sich als Träume äußern, die die Sprache des Unbewussten sind. Schlaf und Träume
gehören deshalb zur weiblichen Urpotenz Nyx, deren Kinder sie sind:
Die Nacht …
gebar auch den Schlaf und brachte die Sippe der Träume hervor; keinem gesellt,
gebar sie die Göttin, die finstere Nacht (9)
Regenerierender Schlaf umfängt den Menschen mütterlich wie
das Fruchtwasser des Uterus das Ungeborene. Deshalb wecken Anblick und
Geräusche des Meeres, aus dem das Leben kommt, beim Menschen sehnsüchtige
Erinnerungen an den bewusstlosen Zustand im Mutterschoß; dazu ein Zitat von dem
Philosophen Karl Joel:
Ich liege am
Meeresstrand; blau schimmert die flimmernde Flut in die träumenden Augen …
anstürmend, abschäumend, aufregend, einschläfernd kommt der Wogenschlag ans Ufer
… oder ans Ohr? Ich weiß es nicht. Ferne und Nähe verschwimmen in eins; draußen
und drinnen gleiten ineinander über. Näher und näher, trauter und trauter und
heimischer tönt der Wogenschlag; jetzt schlägt er als donnernder Puls in meinem
Kopfe, und jetzt schlägt er hinweg über meine Seele, umschlingt sie,
verschlingt sie, während sie selber doch zugleich hinausschwimmt, als blauende
Flut. … die Welt verhaucht in die Seele
und die Seele löst sich in die Welt … Unser kleines Leben ist von einem großen
Schlaf umflossen … Der Schlaf unsere Wiege, der Schlaf unser Grab … der Schlaf
unsere Heimat, aus der wir am Morgen ausziehn, in die wir am Abend wieder
einziehn, unser Leben aber die kurze Wanderschaft, die Spannung zwischen dem Auftauchen
aus der Ureinheit und dem Versinken in sie! … Blau flutet das Meer, das
unendliche, darin die Qualle jenes Urleben träumt, zu dem unser dämmerndes
Ahnen noch durch Aeonen der Erinnerung hinabsickert. (10)
In Joels Schilderung wird die menschliche Seele vom Wasser
„umschlungen“, vom Schlaf „umflossen“, ist in den unbewussten Zustand gebettet
wie ein Kleinkind in seine „Wiege“ oder ein Verstorbener in sein „Grab“. Dieses
Urgefühl, umgeben, umfangen, umflossen zu sein, ist archetypische Erinnerung an
den vorgeburtlichen Zustand im Fruchtwasser und prägt – wie schon erwähnt –
auch die Sprache, wenn man im Deutschen jemanden, der nicht mehr bei Verstand
ist, „um-nachtet“ nennt oder im Russischen von „об-морок“, von „Um-dunkelung“ spricht, wenn
jemand in Ohnmacht gefallen ist.
Jenes Urgefühl, von Nacht und Schlaf
mütterlich, in seliger Geborgenheit umfangen zu werden, spricht auch aus den
ersten beiden Zeilen dieses Tjutschew-Gedichts:
Как
сладко дремлет сад темно-зеленый
Объятый негой ночи голубой!
Verwandt ist
auch, was Thomas Mann in seinem Essay Süßer
Schlaf schreibt:
Du wirst
lächeln, sage ich – und doch, welchen außerordentlichen Rang nimmt unter dem
Hausrat das Bett ein, dies metaphysische Möbelstück, in dem die Mysterien der
Geburt und des Todes sich vollziehen, dies duftige Linnengehäuse, worin wir,
warm, unbewusst und mit emporgezogenen Knien wie einst im Dunkel des
Mutterleibs, wieder angeschlossen gleichsam an den Nabelstrang der Natur,
Nahrung und Erneuerung auf uns ziehen auf geheimnisvollen Wegen … Ist es nicht
wie ein Zaubernachen, der über Tag verdeckt und unscheinbar seinen Winkel
einnimmt, und in dem wir jeden Abend hinausschaukeln auf das Meer des
Unbewusstseins und der Unendlichkeit?
Das Meer! Die Unendlichkeit! Meine Liebe zum Meer … ist so alt wie meine Liebe
zum Schlaf …
Diese angeborene Erinnerung an das vorgeburtliche Leben im
Fruchtwasser prägt auch das antike Weltbild: Die Alten stellten sich die Erde
als Insel, als vollständig umflossen vom Weltmeer, vom Okeanos, vor. Ihn nennt
Aischylos den Gott
Der überall
den Erdkreis umströmt
mit nie ruhender Flut (11)
Dieses im Mythos gespiegelte Urgefühl, dass die Welt, in der
wir Menschen leben, vollständig umflossen und begrenzt wird von etwas, das
größer ist und lebendig und mächtig, ein göttliches Wesen, wurzelt im
vorgeburtlichen Dasein des Embryos, dessen Universum der mit Fruchtwasser
gefüllte Uterus ist. Zwar lebt der Mensch nach seiner Geburt und nach den frühen
unbewussten und halbbewussten Stadien seiner Kindheit im Bewusstsein wie auf
festem Land, das aus dem Urwasser aufgetaucht ist, aber eben nur eine Insel
ist, die von der unbewussten Tierseele vollständig umgeben bleibt und jederzeit
wieder für lange oder für immer in diese versinken kann, ja täglich für eine
bestimmte Frist versinken muss: in den regenerierenden Schlaf.Da die Neigung des Menschen, von der bewussten in die
unbewusste Existenzweise zurückzufallen, stark ist, lauert sie als Gefahr und
wird gefürchtet:
Kaum berührt
einen nämlich das Unbewusste, so ist man es schon, indem man seiner selbst
unbewusst wird. Das ist die Urgefahr, die den primitiven Menschen, der ja
selber noch so nahe diesem Pleroma steht, instinktmäßig bekannt und ein
Gegenstand des Schreckens ist. Seine Bewusstheit ist nämlich noch unsicher und
steht auf schwankenden Füßen. Sie ist noch kindlich, eben aufgetaucht aus den
Urwassern. Leicht kann eine Woge des Unbewussten über sie hinwegschlagen, und
er vergisst, wer er war, und tut Dinge, in denen er sich selbst nicht mehr kennt. (12)
Nicht nur der Wunsch nach Regression und Regeneration treibt
den Menschen in sein Unterbewusstsein, sondern auch Neugierde, das Streben nach
tieferem Wissen. Denn Bewusstsein und Verstand sind einseitig. Was dem Menschen
nicht gefällt, was ihm nicht ins Konzept passt, ihm Angst macht oder seine
Eitelkeit kränkt, was mit dem Rationalismus seiner Zivilisation nicht vereinbar
ist, verdrängt er gerne. Wahre Erkenntnis und Selbsterkenntnis, ganzheitliches
Erleben ist daher nur möglich, wenn man sich mit seinem Unterbewusstsein
einlässt. Um dieses Problem drehen sich die Träume zweier Patienten C. G.
Jungs:
Ein
protestantischer Theologe träumte öfters denselben Traum, er stehe an einem Abhang, unten liegt ein tiefes Tal und darin ein
dunkler See. Er weiß im Traum, dass ihn bisher immer etwas abgehalten hatte,
sich dem See zu nähern. Dieses Mal beschließt er nun, zum Wasser zu gehen. Wie
er sich dem Ufer nähert, wird es dunkel und unheimlich, und plötzlich huscht
ein Windstoß über die Fläche des Wassers. Da packt ihn eine panische Angst, und
er erwacht. (13)
In C.G.Jungs Deutung zeigt der Traum den Wunsch des Träumers,
„in seine eigene Tiefe“, hinunterzusteigen, sich also mit seinem
Unterbewusstsein, mit verdrängten Wünschen und Ängsten, einzulassen und
zugleich seine Furcht davor, die ihn erwachen lässt.
In dem thematisch verwandten Traum eines anderen Theologen, den C.G.Jung
berichtet, liegt ein Gewässer, das das Unbewusste verkörpert, ebenfalls
besonders tief:
So träumte
ein anderer Theologe, dass er auf einem
Berge eine Art Gralsschloss erblickte. Er ging auf einer Straße, die scheinbar
gerade zum Fuß des Berges und zum Aufstieg führte. Als er sich aber dem Berge
näherte, da entdeckte er zu seiner großen Enttäuschung, dass ihn ein Abgrund vom
Berge trennte, eine finstere, tiefe Schlucht, in der ein unterweltliches Wasser
rauschte. Es führte zwar ein steiler Pfad in die Tiefe und kletterte auf der
anderen Seite wieder mühsam empor. Aber die Aussicht empfahl sich nicht,
und der Träumer erwachte. (14)
Die Angst, im Unterbewusstsein zu versinken, wird geringer,
wenn der Mensch, der sich mit seinen Abgründen einlassen will, wie ein Fischer
agiert, der den festen Boden nicht verlässt und seine Angel auswirft:
Die
Beschäftigung mit dem Unbewussten ist uns eine Lebensfrage. Es handelt sich um
geistiges Sein oder Nichtsein. Alle jene Menschen, denen die im erwähnten Traum
angedeutete Erfahrung zugestoßen ist, wissen, dass der Schatz in der
Wassertiefe ruht, und sie werden ihn zu heben versuchen. Da sie nie vergessen
dürfen, wer sie sind, so dürfen sie ihr Bewusstsein unter keinen Umständen
verlieren. Sie werden also ihren Standpunkt auf der Erde festhalten; sie werden
damit – um im Gleichnis zu bleiben – zu Fischern, welche das, was im Wasser
schwimmt, mit Angel und Netz fangen. (15)
Doch die Gefahr ist nicht vollständig gebannt. Das
Unterbewusstsein kann auch einen erfahrenen Fischer in seine Tiefe locken –
solch einen Fall schildert Goethe in seiner naturmagischen Ballade Der Fischer, in der verdrängte erotische
Wünsche, verkörpert durch eine berückende Nixe, zum Verhängnis werden:
Das Wasser
rauscht‘, das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht;
Teilt sich die Flut empor;
Aus den bewegten Wassern rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.
Sie sang zu
ihm, sie sprach zu ihm:
„Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach, wüßtest du, wie’s Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst hinunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.
…
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war‘s um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin;
Und ward nicht mehr gesehn.
Nun zu Tjutschews Gedicht Какокеанобъемлет...: Es beginnt mit einem Vergleich, in
dem wir das antike Weltbild und die in diesem gespiegelte Urerinnerung an den
vorgeburtlichen unbewussten Zustand wiedererkennen:
Как океан объемлет шар земной,
Земная жизнь кругом объята снами...
Wie die Erde (16) vom Ozean ist das Leben des Menschen auf
der Erde - „земная жизнь“ – von Träumen umfangen. Träume sind die Sprache des
Unbewussten, während das Festland für das Bewusstsein steht: der Ozean ist also
die unbewusste Tierseele, die das Bewusstsein wie eine Insel einschließt. Das
Unterbewusstsein ist nicht nur Wasser, sondern auch dunkel, deshalb kommt im
Gedicht die Nacht hinzu, in der der Mensch von Schlaf umfangen wird und träumt:
Настанет ночь – и звучными волнами
Стихия бьет о берег свой.
Mächtig wirkt die Sehnsucht des Menschen nach Rückkehr ins Urwasser,
in die Nacht des Unbewussten, wo ihm erlösende Ruhe und Regeneration, aber auch
Vernichtung winkt; deshalb ist die Gefahr groß. Diese Gefahr liegt in der Seele
des Menschen, wird aber auf das Wasser projiziert, von dem sie deshalb
auszugehen scheint: Es verführt, es lockt, oft verkörpert durch eine Nixe wie
zum Beispiel in Goethes Fischer; die
Angst, die der Mensch vor dem Wasser hat, ist im Grunde Angst vor seiner
eigenen Sehnsucht nach Regression. Erinnern wir uns, wie Joel die einlullende
Lockung des Meeres schildert:
Ich liege am
Meeresstrand; blau schimmert die flimmernde Flut in die träumenden Augen …
anstürmend, abschäumend, aufregend, einschläfernd kommt der Wogenschlag ans
Ufer … oder ans Ohr? Ich weiß es nicht. … Näher und näher, trauter und
heimischer tönt der Wogenschlag … und jetzt schlägt er hinweg über meine Seele,
umschlingt sie, verschlingt sie, während sie selber doch zugleich
hinausschwimmt, als blauende Flut. … die
Welt verhaucht in die Seele und die Seele löst sich in die Welt … Unser kleines
Leben ist von einem großen Schlaf umflossen … Der Schlaf unsere Wiege, der
Schlaf unser Grab
Auch bei Tjutschew schlägt das lockende Urwasser mit
wohlklingenden Wellen ans Ufer, das heißt, an die Grenze zwischen Bewusstsein
und Unterbewusstsein, und will den Menschen verführen, diese Grenze zu
überschreiten.
Und in der zweiten Strophe lässt sich
der Mensch verführen: Er gleitet hinaus aufs Nachtmeer, in einem magischen
Kahn:
Уж в пристани волшебный ожил челн;
Прилив растет и быстро нас уносит
В неизмеримость темных волн.
Verwandt ist, was Thomas Mann in seinem Essay Süßer Schlaf schreibt:
Ist es nicht
wie ein Zaubernachen, der über Tag verdeckt und unscheinbar seinen Winkel
einnimmt, und in dem wir jeden Abend hinausschaukeln auf das Meer des
Unbewusstseins und der Unendlichkeit?
Die Fahrt geht hinaus aufs Meer, aber nicht ins Meer! Der
Mensch versinkt nicht darin – das ist der Unterschied zwischen Schlaf und Tod.
Beide sind verwandt, weil sie Verlust des Bewusstseins und Rückkehr ins
Unbewusste bedeuten. Sie sind deshalb Brüder, wie die griechische Mythologie (Ilias 16,617; Hesiod: Theogonie 211f.) und auch Tjutschew, der
in Близнецы schreibt, wissen (17):
Есть близнецы – для земнородных
Два божества – то Смерть и Сон,
Как брат с сестрою дивно сходных -
Она угрюмей, кротче он...
Doch der Tod ist Regression ohne Rückkehr, oder, wenn man an
Wiedergeburt glaubt, mit Wiederauferstehung erst nach sehr langer Zeit und in
eine andere Existenz hinein, der Schlaf
nur ein kurzer Trip, der aber seine Verwandtschaft mit dem Tod nicht ganz
verleugnen kann, „the death of each day’s life“ nennt ihn Shakespeare in Macbeth (II,2).
Da der Mensch in der 2. Strophe nicht untergeht, weil er in einem Boot sitzt,
lässt sich das Geschilderte als Gleichnis für das Gleiten in den Schlaf deuten.
Das Bild des Menschen, der in einem Kahn auf dem Meer treibt, finden wir auch
in Tjutschews Gedicht Соннаморе. Der Titel bedeutet sowohl „Traum
auf dem Meer“, als auch „Schlaf auf dem Meer“. Auch hier lässt sich das
Geschilderte als Gleiten in den Schlaf deuten, denn das lyrische Ich ist „сонный“, befindet sich also im Übergang vom
Wachen in den Schlaf. Mit der Verwandtschaft des Schlafs mit dem Tod – beide
bedeuten Bewusstseinsverlust – hat die unheimliche Stimmung, die Angst vor
Gefahr zu tun, die in beiden Gedichten herrscht, in Соннаморе, wo ein
Sturm das Meer aufwühlt, freilich stärker als in Какокеанобъемлет... (18). In Соннаморе ist der schlafende Mensch „den
Launen der Wellen ausgeliefert“. Die Wellen symbolisieren Träume, die launisch
sind, weil sie sich vom bewussten Willen und vom Verstand nicht steuern lassen
– das kriegt der Mensch besonders dann zu spüren, wenn ihn Albträume
heimsuchen.
In beiden Gedichten lässt sich die Fahrt mit dem Kahn nicht nur als Gleiten in
den Schlaf deuten, sondern auch als Inspirationserlebnis (19). Denn Inspiration
geschieht nur dann, wenn die Beschränktheit des Bewusstseins, aus dem so vieles
verdrängt ist, überwunden wird, so dass der Inspirierte Anteil an den tiefen
Wahrheiten des Unbewussten erlangt. Die Grenze zwischen Bewusstsein und
Unterbewusstsein muss überschritten werden, was man auch „Ek-stase“, das
Heraustreten aus Bewusstsein und Verstand, nennt. Der Zustand der Inspiration
ist deshalb mit furor, mit Wahnsinn verwandt: „negat enim sine furore
Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato“ (20).
Vielleicht kann man es weniger extrem auch so sagen: Kontrolle und Zensur durch
das Bewusstsein müssen bei der Inspiration vermindert werden; werden sie jedoch
völlig zerstört, versinkt der Inspirierte in Wahnsinn, ist ein с-ума-сшедший, und taucht aus seinem Wahn, wenn er
Pech hat, nicht wieder auf. Diese
poetologische Interpretation, die Deutung des Menschen im Kahn als inspirierten
Dichter, der dem Unbewussten, dem Meer, gefährlich ausgeliefert ist, wird
gestützt, wenn wir ein weiteres Tjutschew-Gedicht hinzuziehen: Лебедь:
Пускай орел за облаками
Встречает молнии полет
И неподвижными очами
В себя впивает солнца свет.
Но нет завиднее удела,
О лебедь чистый, твоего -
И чистой, как ты сам, одело
Тебя стихией божество.
Она, между двойною бездной,
Лелеет твой всезрящий сон -
И полной славой тверди звездной
Ты отовсюду окружен.
Der Schwan ist ein altes Symbol für den Dichter, der sich wie
der inspirierte Mensch in Соннаморе und Какокеанобъемлет... auf dem Wasser befindet, aber gegen die Gefahr des
Ertrinkens gefeit ist. Denn als Wasservogel ist er in seinem Element und muss
es nicht fürchten, er hat intensiven Kontakt mit dem Unterbewusstsein und
seinen tiefen Wahrheiten, aber er versinkt nicht darin – dies dürfte der Grund
sein, warum man seit der Antike Dichter mit Schwänen vergleicht – beneidenswert
ist deshalb das Los des majestätisch-souverän auf dem Wasser schwimmenden
Dichter-Schwans nicht nur aus der Sicht des Adlers, sondern auch aus der Sicht
des hilflos und ängstlich in seinem Kahn sitzenden Menschen der beiden anderen
Gedichte; das Unterbewusstsein ist ein безда, flößt aber keine Angst ein (21).
Die dritte, das Gedicht abschließende Strophe ist dem
himmlischen Licht gewidmet, das den Menschen auf dem unheimlichen Nachtmeer im
Dunkeln nicht allein lässt. Es ist das Licht der Sterne, das früher schon
deshalb ganz konkret heilbringend war, weil es den Seefahrern Orientierung bot,
und ein Schlüsselwort ist слава, hier ein christlich-religiöser Begriff. Er übersetzt das
griechische „doxa“, im Lateinischen entsprechen ihm „gloria“ oder „claritas“
und im Deutschen „Herrlichkeit“ oder „Klarheit“. „Слава Божия /die Herrlichkeit Gottes“ bezeichnet
in der Bibel oft die Ausstrahlung von
Gottes Ruhm und Majestät als Lichterscheinung. Denn der christliche Gott als
Nachfolger heidnischer männlicher Himmelsgötter wie zum Beispiel Zeus war
ursprünglich die Sonne, also jene als göttlich verehrte Naturkraft, ohne deren
Wärme und Licht es kein Leben auf der Erde gäbe. Die Naturpotenz Sonne nahm
Menschengestalt an, wurde zum Himmelsgott Zeus, der donnert und blitzt, Nymphen
und Tiere mit seinem Sonnenstrahl schwängert (22), und später zum christlichen
Gott – behalten hat er das himmlische Feuer:
Und die
Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, dass sie ihr scheinen; denn die
Herrlichkeit (doxa) Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm.
И город не имеет нужды ни в солнце, ни в луне для
освещения своего; ибо слава Божия осветила его, и светильник его – Агнец. Offenbarung 21,23
Und als
Salomo sein Gebet vollendet hatte, fiel Feuer vom Himmel und verzehrte das
Brandopfer und die Schlachtopfer, und die Herrlichkeit des HERRN (doxa kyriou)
erfüllte das Haus
Когда Сулейман закончил молиться, с небес сошел огонь,
который пожрал всесожжения и жертвы, и Слава Вечного наполнила храм. 2. Chronik 7,1
Mache dich
auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN (doxa
kyriou) geht auf über dir! Denn siehe, Finsternis bedeckt das Erdreich und
Dunkel die Völker; aber über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit
(doxa) erscheint über dir. Und die Heiden werden zu deinem Lichte ziehen und
die Könige zum Glanz, der über dir aufgeht.
Встань, воссияй, так как свет твой пришёл, и слава Вечного уже восходит над
тобою.
Потому что мрак покроет землю,и тьма – народы,но над тобою взойдёт Вечный,и
слава Его явится над тобою. Народы придут к твоему свету,и цари – к сиянию
твоей зари
Jesaja 60,1ff.
Und es waren
Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts
ihre Herden. Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des
Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.
В той стране были на поле пастухи, которые содержали
ночную стражу у стада своего. Вдруг предстал им Ангел Господень, и слава
Господня осияла их; и убоялись страхом великим. Lukas 2,9-10
Vom Sternenlicht, das die Macht und Majestät des christlichen
Himmelsgotts ausstrahlt, wird der Mensch auf dem gefährlichen Nachtmeer
schützend umgeben und gehalten, so dass er nicht versinkt. Dieses Licht Gottes,
das zugleich für die Macht des Bewusstseins steht, dringt mit seinem
Spiegelbild in das Meer ein, so dass sich der Mensch auf den Wogen nicht nur
vom Wasser-Unterbewusstsein bedrohlich,
sondern zugleich vom Licht-Bewusstsein rettend
umfangen sieht. Das Licht als das bewusste Prinzip ist genau so mächtig wie das
Wasser als unbewusstes Prinzip, denn beide sind ein Abgrund, also unermesslich
groß und stark – das Licht kommt von Gott, denn es symbolisiert die mit
Bewusstsein und Vernunft begabte Seele, die der Mensch von Gott hat und die ihn
Gott ähnlich macht und über das Tier erhebt, auch über das Animalische in ihm,
die Tierseele, die ihn nicht in ihren Bann ziehen soll - das ist die
zuversichtlich stimmende christliche Botschaft des Gedichts, die es freilich
auch vom Archetypus abweichen lässt. Denn das Licht-Bewusstsein, das im
urtümlichen, naturreligiösen Menschenbild schwächer als das Nachtmeer ist, nur
sein Kind, das die Urmutter jederzeit wieder in sich einschlucken kann, dieses
Licht ist in Tjutschews Gedicht christlich überhöht: Es stammt vom himmlischen
Vatergott und ist der dunklen mütterlichen Urpotenz ebenbürtig und gewachsen.
Verwandt mit diesem Gottesbild ist die Bibelstelle Hiob 38,8-11, wo der christliche Gott
als Repräsentant der Verstandeshelle, des Logos-Prinzips, sich als Gegenspieler
des Unterbewusstsein-Meeres definiert, der das chaotische und aggressive
Naturelement in Schach hält und am Überfluten des Festlandes hindert; in dem
kühnen Vergleich entsteht das Unterbewusstsein-Meer aus dem Mutterschoß, denn
von dort stammt die Unbewusstheit, die das Neugeborene mit auf die Welt bringt
und der Erwachsene nie ganz los wird, so dass Gott als der Vertreter des
Verstandes sie wie ein Kind behandeln, sie bevormunden und ihr Grenzen setzen
muss:
Wer hat das
Meer mit Toren verschlossen, als es herausbrach aus dem Mutterschoß, als ich‘s
mit Wolken kleidete und in Dunkel einwickelte wie in Windeln, als ich ihm seine
Grenze bestimmte mit meinem Damm und setzte ihm Riegel und Tore und sprach:
„Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine
stolzen Wellen!“?
In Какокеанобъемлет... vertraut
der Mensch, der inspiriert wird oder träumt und deshalb fürchten muss, Beute
des Unbewussten zu werden, auf Rettung durch die oberen Mächte, die ihn davor
bewahren. Ähnliches gilt auch für Соннаморе, wo das lyrische Ich – mitsamt
seinem Traum (oder seiner Vision oder seinem durch Inspiration entstandenen
Kunstwerk) – in die Höhe strebt, weil es sich dort „как бог“ und sicher vor dem Abgrund des
Unbewussten glaubt. Dieses gottähnliche Schweben über den gefährlichen
Niederungen dürfte jedoch in hohem Maße Wunschdenken sein, denn wer inspiriert
ist, steht mit dem Unbewussten in engstem, gefährlichen Kontakt, woran das
lyrische Ich in den letzten vier Zeilen des Gedichts erinnert wird. Und ein
weiterer Unterschied zwischen beiden Gedichten ist wichtig: In Соннаморе identifiziert sich das lyrische Ich mit einem Gott, fühlt
sich gottgleich („по высям творенья, как вог, я шагал“), was an Hybris grenzt, während der Mensch in Какокеанобъемлет... sich in Demut weiter als schwache,
gefährdete Kreatur fühlt, die aber gehalten und bewahrt wird von Gott, dessen
Macht der des Abgrunds gewachsen ist; ein Mensch, der sich in Hybris überhebt,
wird von den Göttern oft zur Strafe gestürzt – die letzten vier Zeilen lassen
sich als Warnung davor deuten (23).
Da Inspiration nur dann möglich ist, wenn der Inspirierte die Beschränktheit seines
Bewusstseins überwindet, muss er, wenn
sein Geist sich in himmlische Höhen aufschwingt, dennoch mit seinem
Unterbewusstsein, symbolisiert durch das Wasser, in engem Kontakt bleiben, darf
sich nicht von ihm entfernen. Das wird deutlicher, wenn wir Соннаморе mit einem anderen poetologischen Gedicht über das
Inspiriertwerden vergleichen, mit Puschkins Пророк: Auch
hier weitet sich der Horizont des inspirierten Dichters, dessen Geist aber
nicht nur in die Höhe, sondern zugleich auch in die Tiefe dringt:
И внял я неба содроганье,
И горний ангелов полет,
И гад морских подводный ход,
И дольней лозы прозябанье.
Das ist der Unterschied! Der Inspirierte in Соннаморе würde nie (freiwillig) in die Tiefe zu den
Meeresungeheuern herabdringen, weil er vor dem Unterbewusstsein-Meer Angst hat.
Deshalb ist sein Traum, also sein Kunstwerk, auch unnatürlich, blutleer, nicht richtig
lebendig, sondern stumm: bevölkert von exotischen Vögeln, die nicht zwitschern.
Sein Dichtertum ist einseitig und unvollständig, was auch für den Adler gilt,
der im poetologischen Gedicht Лебедь einen abgehobenen, verstandesmäßigen,
verkopften Dichtertyp verkörpert, der den Kontakt zum Unterbewusstsein, zur
Tiefe verloren hat; diese Einseitigkeit soll in den letzten vier Zeilen
korrigiert werden. Gelenkt wird deshalb der Blick auf den verachteten und
vernachlässigten unteren Bereich, zu dem auch ein heulender Zauberer gehört: „волшебника вой“. Will man verstehen, wofür der
Zauberer und sein Geheul stehen, muss man sich klar machen, was ein Dichter
ursprünglich war: Magischer Priester, Seher, Medizinmann, Schamane, der in
Ekstase Zauberformeln, Beschwörungen murmelte, sprach, sang oder heulte, um
Kontakt mit Göttern, Dämonen, Ahnengeistern aufzunehmen, sich durch sie
inspirieren zu lassen und das, was er so von ihnen erfuhr, seien es magische
Formeln zur Heilung von Kranken, sittliche Ermahnungen oder Orakelsprüche, den
Menschen murmelnd, sprechend, singend (24) oder heulend mitzuteilen. Dieser archaische
Dichter, der vates (25), der heulende Schamane, der sich dem unteren Bereich,
der Natur, auch der Natur im Menschen, der Tierseele, also dem Unbewussten,
noch nicht entfremdet hat, ist der Antagonist des aufgeklärten Rationalisten,
der sich im Gedicht vom Unterbewusstsein, ohne das Inspiration nicht möglich
ist, abkoppeln will, weil er Angst vor ihm hat und sich einbildet, kraft
Bewusstsein und Verstand alles im Griff zu haben, alles zu beherrschen,
souverän über allem zu stehen. Dieser Dichter-Schamane ist noch Teil der Natur,
sein unheimliches, aber Weisheit kündendes Heulen ist das Heulen des Meeres,
des erregten Naturelements, und sein Erscheinen im Gedicht ist eine Mahnung an
den rationalistischen Künstler, sich nicht in Dünkel und Hybris über den Urgrund
aller Inspiration zu erheben.
1) Richard
A. Gregg: Fedor Tiutchev. The Evolution
of a Poet, S. 105f.
2) Sigmund
Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur
Einführung in die Psychoanalyse (GW XV, 80)
3) C. G. Jung: Analytische Psychologie und Erziehung,
GW 17 § 207
4) C. G.
Jung: Die Ehe als psychologische
Beziehung, GW 17, § 326
5) Hesiod: Theogonie 123ff. – Übersetzung: Otto
Schönberger
6) C. G. Jung: Symbole der Wandlung, GW 5, § 558
7) C. G. Jung: Symbole der Wandlung, GW 5, § 539, siehe
auch § 538 und Fußnote 87, wo Beispiele angeführt werden. Auch Pinocchio im Walt-Disney-Film befreit sich
aus einem Seeungeheuer, indem er Feuer macht; das Feuer steht für das Licht der
Sonne, die morgens das Wasser verlässt, um zu neuem Leben wiedergeboren zu
werden.
8) C. G. Jung: Die psychologischen Grundlagen des
Geisterglaubens. GW 8, § 580f.
9) Hesiod: Theogonie 211ff. – Übersetzung: Otto
Schönberger
10) Zitiert nach C. G.
Jung: Symbole der Wandlung, GW 5, §
500
11) Aischylos: Der gefesselte Prometheus 138f.; zu
diesem Weltbild ausführlich: Roscher: Ausführliches
Lexikon der römischen und griechischen Mythologie, Artikel Okeanos, Spalte 809-813
12) C.G.Jung: Über die Archetypen des kollektiven
Unbewussten, GW 9/I, § 47
13) C.G.Jung:
Über die Archetypen des kollektiven
Unbewussten, GW 9/I, § 34
14) C.G.Jung:
Über die Archetypen des kollektiven
Unbewussten, GW 9/I, § 40
15) C.G.Jung:
Über die Archetypen des kollektiven
Unbewussten, GW 9/I, § 51
16) Die Alten
stellten sich die Erde zuerst als vom Okeanos umflossene Scheibe, später als
Kugel vor – vgl. Der Kleine Pauly, Artikel Okeanos,
Spalte 269f.
17) und auch der
Altphilologe und Religionswissenschaftler Hermann Usener, der in Götternamen im Kapitel Verehrung des Lichts (S. 178) über
Schlaf und Nacht und ihren Antagonisten, das Licht, schreibt:
„Aus dem halbtod des schlafs erweckt uns das licht des tages zum leben; ‚das
licht schauen‘, ‚das licht der sonne sehen‘, ‚im lichte sein‘, heisst leben,
‚ans licht kommen‘ geboren werden, ‚das licht verlassen‘ sterben. Nach den
gefahren und gespenstischen schrecknissen der nacht wirkt das aufgehende licht
erlösend und rettend, befreiend und reinigend.“
18) Vgl. Bodo
Zelinsky: Russische Romantik, S. 82:
„Das in den Traum entsinkende Ich erfährt den Anruf des Seins als
Ausgeliefertsein: „ausgeliefert der Laune der Wellen“. Diese Abhängigkeit , die
äußerlich schon durch die Tatsache der größeren Anfälligkeit eines kleinen
Seefahrzeugs (челн statt корабль)
begünstigt und in der grammatischen Struktur des Eingangsverses, im Subjektsein
von Meer und Sturm und im Objektsein des Bootes, angedeutet ist, steigert sich
bis zur völligen Besinnungslosigkeit. Schaudernd hat das Ich das sirenenhafte
Singen des Windes und der Wellen vernommen …“
19) Dass Соннаморе ein
Inspirationserlebnis, einen „furor poeticus“ zum Thema hat, konstatieren zum
Beispiel Ralph E. Matlaw: The Polyphony
of Tyutchev’s „Son na more“, in: The Slavonic and East European Review Vol.
36, 1957, S. 200, und Richard A. Gregg: “Dream
at Sea”: Tiutchev and Pascal, in: Slavic Review Vol. 23 (1964)
20) Cicero:
Über die Wahrsagung I,80: „Niemand
könne nämlich, sagt Demokrit, ohne Wahnsinn ein großer Dichter sein, und Platon
behauptet das ebenfalls“ – Übersetzung: Christoph Schäublin (Tusculum).
21) Vgl. Sarah
Pratt: (The Semantics of Chaos in Tjutcev,
S. 107), die ЛебедьmitКакокеанобъемлет...,Соннаморе und anderen Tjutschew-Gedichten zum Thema Chaos
vergleicht und zu dem Eindruck gekommen ist: „In spite of this parallelism,
„Lebed‘“ cannot be considered a part of the chaos cycle. In
subjective terms, one simply does not feel
the presence of the chaos in the poem.”
23) Vgl. die
ähnliche Interpretation von Gregg (a.a.O. Fußnote 19, S.529), der den Dichter
in Соннаморе mit Prometheus, der Verkörperung
menschlicher Hybris, vergleicht:
„The poet has, it would seem, become Prometheus. In his
supreme audacity he has tried to escape from the sea of incercitude …, ascend
the supernatural heights, and know the unknowable. … Tiutchev’s vision is … the
beautiful but precarious product of an abnormal state of mind, destined
eventually to fall prey to reality.”
24) Deshalb
hat lateinisch “carmen”, dessen Hauptbedeutung “Lied, Gedicht” ist, aus älterer
Zeit noch Nebenbedeutungen wie „Orakelspruch“, „Weissagung“, „Zauberspruch“,
und „vati-cinium“, das „Prophezeiung, Weissagung“ bedeutet, setzt sich zusammen
aus „vates“ und „cin-ium“, dem
Substantiv zu „cano, ce-cin-i = singen“, meint also ursprünglich, was der Seher
singt.
25) “Vates”
bedeutet in der augusteischen Epoche sowohl “Dichter”, als auch “Seher”; in
älterer, noch nicht rationalistisch verkümmerter Zeit war er außerdem noch
Priester, Zauberer, Schamane, Medizinmann – dazu heute immer noch grundlegend
Ernst Bickel: Vates bei Varro und Vergil.
Die Kult- und Ahnenlieder, Seher-, Zauber- und Heilverse des vates. In:
Rheinisches Museum 94 (1951). Dass der vates, der Dichter-Seher, früher
zugleich magischer Priester war, bestätigt auch die Etymologie: Das Wort врач, das zu врать „lügen, faseln“ und ворчать „brummen, murren“ gehört, also ursprünglich,
denjenigen, der beschwört, bespricht, bezeichnete (Vasmer), bedeutet heute im Serbokroatischen
„Wahrsager, Hexer, Zauberer“, im Bulgarischen „Wahrsager, Zauberer,
Wunderdoktor“ und im Russischen „Arzt“ – in ältester Zeit war das alles eins.