DER KAMPF UM DAS LAND UND DIE FRAUEN IN J.M. COETZEES ROMAN SCHANDE English version
Der 1999 erschienene Roman des Nobelpreisträgers J.M. Coetzee
handelt von Rassenkonflikten im Post-Apartheid-Südafrika, die auch nach der
endgültigen Abschaffung der Apartheid im Jahre 1994 weiterschwelen als nur
schwer zu bewältigendes Erbe des Kolonialismus. Zu diesen Konflikten gehört vor
allem der Kampf um Macht: Macht über das Land, das die weißen Siedler den
schwarzen Ureinwohnern geraubt haben. Und Macht über die Frauen – der weiße
Kolonialherr war es gewohnt, sich die schwarzen Mädchen und Frauen zu nehmen
und sexuell auszubeuten. Wie nach dem Ende der Apartheid Schwarze geraubtes
Land zurückgewinnen und sich durch Vergewaltigung und Schwängerung einer weißen Frau für die sexuelle Ausbeutung
schwarzer Frauen rächen, ist Thema des Romans. Und zwischen dem Land und der Frau
besteht ein enger Zusammenhang, der auf der uralten Vorstellung von der Mutter
Erde beruht. Denn seit ältesten Zeiten fühlt sich ein Bauer, der seinen Acker
mit dem Pflug aufreißt und in die Furchen Samen sät, wie ein Mann, der seiner
Frau beiwohnt und sie mit seinem Sperma schwängert.
Hauptfigur des Romans ist David Lurie, Professor für Sprach-
und Literaturwissenschaft in Kapstadt. Er hat eine Affäre mit seiner Studentin
Melanie Isaacs. Der Sex mit dem jungen Mädchen verschafft dem 52-Jährigen das
Gefühl, noch kein alter Mann zu sein – das ist sein eigentliches Motiv. Er
verführt sie unter Ausnutzung der Machtposition, die er als Professor ihr
gegenüber einnimmt, drängt sich ihr regelrecht auf und fügt ihr ein seelisches
Trauma zu. Die Affäre hat auch eine politische Dimension: Lurie ist weiß,
Melanie farbig, und Lurie glaubt, einen Anspruch auf Sex mit ihr zu haben:
„ … a woman’s body does not belong to her alone. It is
part of the bounty she brings into the world. She has a duty to share it.”
…
Smooth words, as old as seduction itself. Yet at this moment he believes in
them. She does not own herself.
(1)
Es ist die Mentalität des weißen Kolonialherren, der glaubt,
ein Anrecht auf die nichtweißen Frauen und Mädchen zu haben, und der gewohnt
ist, sie sexuell auszubeuten (2). Doch Luries sexueller Übergriff ereignet sich
nach dem Ende der Apartheid und hat Folgen: Er wird aus dem Hochschuldienst
entlassen. Der arbeitslose alternde Ex-Professor, der in Kapstadt zur Unperson
geworden ist, flieht zu seiner Tochter Lucy, die in der Provinz Ost-Kap eine
kleine Farm hat. Diese Farm liegt in einer Gegend, in der die
Bevölkerungsmehrheit schon sehr lange nichtweiß war, aber während der Apartheid
von den Weißen dominiert und ausgebeutet wurde. Nach der Apartheid werden die
Weißen, zu denen auch Lucy gehört, zu einer bedrängten Minderheit, während
viele Schwarze ökonomisch aufsteigen. Zu ihnen gehört Lucys Nachbar Petrus, der
immer einflussreicher wird, bis er schließlich Lucy mit ihrem kleinen Landgut
ökonomisch von sich abhängig macht und ihr Schutzpatron wird; als ihr Vater aus
Kapstadt bei Lucy eintrifft, hat er ihr bereits einen Hektar von ihrem Land
abgekauft.
Den Hass der Schwarzen, die so lange unterdrückt und ausgebeutet wurden,
bekommen Lucy und ihr Vater bald zu spüren: Drei schwarze Jugendliche
überfallen die Farm, vergewaltigen und schwängern Lucy und sperren David Lurie
in die Toilette, so dass er seine Tochter nicht beschützen kann. Später
erkennen Lucy und ihr Vater einen der Vergewaltiger wieder: Er ist noch sehr
jung, gehört zu Petrus‘ Clan und heißt Pollux. Zum großen Verdruss ihres
rassistischen Vaters entscheidet sich Lucy, das Kind zu bekommen.
Beim Gedanken an den verhassten Schwängerer seiner Tochter kommt dem
eifersüchtigen Vater ein Bild in den Sinn, das Lucy mit fruchtbarer Erde
vergleicht:
Something about Pollux sends him into a rage: his
ugly, opaque little eyes, his insolence, but also the thought that like a weed
he has been allowed to tangle his roots with Lucy and Lucy’s existence. (p. 209)
Der Same, den Pollux in Lucy gesät hat, wird aufgehen; das
„Unkraut“, das in Lucy keimt, ist Pollux‘ Fleisch und Blut, sein Kind.
Luries Vergleich steht in einer langen Tradition: „Dafür, dass Saat und Ernte
der Frucht mit Zeugung und Geburt des Menschen, ich möchte sagen, in eins
geschaut wurde, bietet attische Religion die markantesten Zeugnisse“, schreibt
Albrecht Dieterich in seiner heute immer noch grundlegenden Abhandlung Mutter Erde. Ein Versuch über Volksreligion.
Von den vielen Beispielen, die Dieterich anführt (S. 46), sei hier nur eines
herausgegriffen. In Sophokles‘ Drama Die Trachinierinnen ist Deianeira die
Gattin des Herakles, von dem sie Kinder hat und sich trotzdem von ihm
vernachlässigt fühlt, da der abenteuerlustige Held selten bei ihr zu Hause ist;
sie vergleicht sich mit einem abgelegenen Acker und ihn mit dem Ackermann:
Wir zeugten ja auch Kinder, die er dann und wann so wie ein Landmann ein entlegnes Ackerfeld beim Säen und beim Ernten einmal nur gesehen. (3)
Das archetypische Bild vom Acker, der weiblich ist, und vom
Beackern, das Zeugen bedeutet, hat auch Shakespeare inspiriert, als er im 3. Sonett einen schönen Jüngling beschwört, einen Sohn zu zeugen, damit in ihm
seine Schönheit, die im Alter verwelkt, weiterlebe:
Look in thy glass, and tell the face thou viewest
Now is the time that face should form another;
Whose fresh repair if now thou not renewest,
Thou dost beguile the world, unbless some mother.
Forwhere is she so fair whose unear’d womb
Disdains the tillage of thy husbandry?
Auch der Koran
vergleicht die Ehefrau mit einem Saatfeld, das von ihrem Ehemann bestellt wird;
zu dem archetypischen Gleichnis gehört, obwohl es nicht ausdrücklich gesagt
ist, dass Sex nicht nur der Lust, sondern auch der Zeugung dient:
Eure Weiber sind euch ein Acker. Gehet zu euerm Acker, von wannen ihr wollt ... (4)
Luries Eifersucht flammt auch auf, als er Pollux ertappt, wie
er heimlich seine Tochter im Badezimmer beobachtet:
As
they approach the house he notices the boy, the one whom Petrus called my people, standing with his face to the
back wall. At first he thinks he is urinating; then he realizes he is peering
in through the bathroom window, peeping at Lucy. (p.
206)
Dass Pollux uriniert, wie Lurie zuerst meint, stimmt nicht.
Trotzdem ist diese Vorstellung, die dem eifersüchtigen Vater in den Kopf kommt,
für die Interpretation des Romans wichtig. Der Urin des Burschen, der in Luries
Vorstellung in das Land, das Lucy gehört, sickert, lässt sich mit Freud als
Samenerguss deuten – diese Vorstellung verkörpert also Luries traumatische
Erinnerung daran, dass Pollux Lurie vergewaltigt und geschwängert hat.
Aber auch ohne Freud sagt das Bild dem Leser etwas: Durch den Urin wird die
Erde gewässert und gedüngt, also fruchtbar gemacht – Pollux spielt sich also in
Luries Fantasie als ein Bauer auf, der das Land in Besitz nimmt und bestellt,
so wie er Lucy genommen und befruchtet hat. Und durch Urin pflegen Hunde und
andere Tiere ihr Revier zu markieren – Pollux als Vertreter von Petrus‘ Clan
erhebt dadurch symbolisch Anspruch auf Lucy und ihr Land. Diese letztere
Interpretation des Bepinkelns als Markieren wird von weiteren Stellen mit der
gleichen Symbolik gestützt, zum Beispiel, als Lurie über die Schwangerschaft
seiner Tochter nachdenkt:
What kind of child can seed like that give life to,
seed driven into the woman not in love but in hatred, mixed chaotically, meant
to soil her, to mark her, like a dog’s urine? (p. 199)
Und Lucy selbst fühlt sich als Teil des Landes, das die drei
Burschen markiert haben:
‚I think I am in their territory. They have marked me.
They will come back for me” (p. 158)
Die drei Schwarzen haben Lucy behandelt wie ein Stück Land,
das sie als Besitz beanspruchen. Die Vergewaltigung soll auch symbolisieren,
dass die Schwarzen sich das Land, dass die weißen Siedler ihren Vorfahren
weggenommen haben, zurückholen wollen, wozu sie nach dem Ende der Apartheid
auch die Möglichkeit haben; „for the black men who rape her, Lucy’s white
female body symbolizes the land from which they have been dispossessed“ (5). Um
den Besitz des Landes geht es ja auch zwischen Lucy und ihrem schwarzen
Nachbarn Petrus: Sie hat ihm bereits einen Hektar von ihrem Land verkauft, und
als dieser „land transfer“ „goes through officially“ (p. 124), ist dies „a big
day for him“, weshalb er ein Fest veranstaltet, zum dem er auch Lucy und ihren
Vater einlädt. Ausgerechnet auf diesem Fest trifft Lucy auf Pollux und zieht
sich außer sich vor Schreck zurück. Diese Begegnung ist natürlich symbolisch:
Auf dem Fest feiern Petrus und sein Clan, zu dem auch Pollux gehört, ihre
Expansion auf Kosten Lucys, und zu
dieser Expansion gehört auch Lucys Vergewaltigung, die nicht nur Racheakt,
sondern auch Machtdemonstration ist und sie veranlasst, sich Petrus als ihrem
Schutzpatron zu unterstellen.
Das Sperma, mit dem die Vergewaltiger Lucy schwängerten,
nennt Lurie „seed“:
What kind of child can seed like that give life to
… (p. 199)
Der Begriff „seed“ taucht wieder auf, als Lurie sich wegen
der Verführung Melanies selbst verurteilt; er habe sich „contra naturam“
verhalten, sich versündigt, weil es widernatürlich ist, wenn alte Männer mit
ihrem verbrauchten Samen junge Mädchen befruchten:
On trial for his way of life. For annatural acts: for
broadcasting old seed, tired seed, seed that does not quicken, contra naturam. If the old men hog the
young women, what will be the future of the species? That, at bottom, was the
case for the prosecution. (p. 190)
Das Bild vom altersschwachen Saatgut, das Lurie aussät, ist
dann in sich stimmig, wenn man sich Melanies Körper – wie zum Beispiel in dem
Zitat aus Sure 2 des Korans – als fruchtbares Stück Erde, als Saatfeld
vorstellt.
Wir haben festgestellt, dass die drei schwarzen Vergewaltiger
Lucy geschwängert und dadurch ihren Körper als ihr Revier markiert haben. Die
gleiche Mentalität offenbart Lurie, als er in seinen Gedanken genießerisch die Hautfarbe der von ihm
sexuell ausgebeuteten nichtweißen Prostituierten Soraya beschreibt:
He strokes her honey-brown body, unmarked by the
sun (p. 1)
Die Bräune ihrer Haut kommt nicht von der Sonne – von wem
dann? Von einem weißen Kolonialherrn, der ihre Mutter oder Großmutter sexuell
ausgebeutet, als seinen Besitz benutzt hat. Durch ihre Hautfarbe ist ihr Körper
als Territorium des weißen Mannes markiert, und als Erbe dieses Besitzrechts
fühlt sich Lurie, der sie sexuell ausbeutet. Auch bei
seiner Studentin Melanie, die er sexuell ausnutzt, reizt ihn ihre dunkle
Hautfarbe, so dass wir Laura Wrights Deutung beipflichten: “For David,
Melanie’s biracial female body offers the opportunity to symbolically reclaim
not only his youth, but also his authoritarian position at a university where
the white male professor is marginalized by increasing demands of gender and
racial diversification.” (6)
1) J. M. Coetzee: Disgrace
(London: Vintage, 2000), p. 16
2) Dass Luries Übergriff auf Melanie die Tradition der
sexuellen Ausbeutung schwarzer Frauen durch weiße Männer fortsetzt, stellen
viele Interpreten fest, vgl. zum Beispiel Margaret Herrick (The Burnt Offering: Confession and sacrifice
in J.M. Coetzee’s „Disgrace“, in: Literature and Theology 2014, S. 5):
„The ‚love‘ that Lurie offers Melanie, then, what he calls ‚eros‘, is none
other than the colonial impulse itself, a fact which Lurie’s infuriated colleague,
Farodia Rassoul, points out during the hearing. She argues that he has resisted
making the connection to ‘the long history of exploitation of which [his
actions are a] part.”
3) 31ff. - Übersetzung: W. Willige / K. Bayer
4) Sure 2, 223 - Übersetzung: Max Henning
5) Laura Wright: “Does
he have in him to be a woman?”: The Performance of Displacement in
J.M.Coetzee’s Disgrace, in: Ariel. A review of International English
Literature (37 (4), p. 89f.