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INSPIRATION

Inspiration ist Befruchtung, ein Zeugungsakt in höherem Sinne. Dazu steht in Ernst Stadlers Gedicht Der junge Mönch:

Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt,
Ich bin ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren.

Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland.
In meiner nackten Scholle kreist die Frucht. Der Regen
Geht drüber hin, Schauer des Frühlings, Sturm und Sonnenbrand,
Und unaufhaltsam reift ihr Schoß dem Licht entgegen.

Geschildert wird eine religiöse Inspiration. Ein Mönch empfängt von Gott, dem er sein Leben geweiht hat, eine höhere Erkenntnis, unter der man sich eine mystische Vision oder eine Offenbarung vorstellen kann. Die Bildlichkeit des Gedichts beruht auf drei archetypischen Vorstellungen, die in Inspirationsschilderungen häufig sind.
"Ich bin ein Halm, den meines Gottes Odem regt" - der Inspirierte wird vom Wind, dem Atem Gottes, bewegt. Man muss an den Grundsinn des Begriffes Inspiration denken: Lateinisch in-spira-tio leitet sich von spiritus ab, was sowohl Geist, als auch Atem, Hauch, Lufthauch, Wind bedeutet. Dieser Atem oder Wind kommt von Gott, der ihm einem auserwählten Menschen einhaucht und ist als von Gott stammende höhere Erkenntnis oder Anregung zu einem genialem Kunstwerk etwas Beseeltes, Geistiges, mit dem Gott dem Sterblichen Anteil an seinem göttlichen Geist gewährt. Die Vorstellung von der Inspiration als Hauch oder Wind, der beseelt ist und von Gott
kommt, beruht auf dem Archetypus Wind, auf den wir unten zurückkommen werden.

Zugleich ist der Inspirierte "ein Saitenspiel, das meines Gottes Finger rühren". Stadler gebraucht hier das traditionsreiche Symbol des Zupfinstruments, meist eine Leier oder Harfe, das für Dichtkunst und Musik steht, die früher noch zusammengehörten, da der Dichter seine Verse singend vortrug und sich dazu mit einer Leier oder Harfe begleitete; Leier hieß bei den alten Griechen Lyra, wovon sich der Begriff Lyrik ableitet, und der Dichter heißt in älteren poetischen Texten auch Sänger.
Stadlers Vergleich des Dichters mit einem Zupfinstrument, auf dem Gott spielt, sagt auch etwas über die Rollenverteilung bei der Inspiration aus. Der Dichter hat den passiven Part inne, er ist Objekt, Empfangender, während Gott als der Urheber der Inspiration der Aktive ist, der auf dem Dichter spielt. Dieser Vergleich beruht auf der archetypischen Vorstellung vom
Musikinstrument als Frauenkörper, wonach Musikmachen sublimierte Erotik ist. Die Inspiration, bei der der Dichter von Gott empfängt, kann man sich also als Befruchtung oder Zeugungsakt in höherem Sinne vorstellen. Dafür spricht auch der dritte Vergleich:
"Ich bin ein durstig aufgerissen Ackerland. In meiner nackten Scholle kreist die Frucht." Diese Symbolik beruht auf der archetypischen Vorstellung von der
Erde als Frau bzw. Mutter, die den Samen empfängt und die Frucht hervorbringt.

Ein Schlüsseltext zu Inspiration als Befruchtung in Zusammenhang mit Wind und Musik ist Samuel T. Coleridges Gedicht The Eolian Harp:

And that simplest Lute,
Plac’d length-ways in the clasping casement, hark!
How by the desultory breeze caress’d,
Like some coy maid half-yielding to her lover,
It pours such sweet upbraiding, as must needs
Tempt to repeat the wrong! And now, it strings
Boldlier swept, ...

Der Wind, als Archetypus ein potenter Mann, der den Frauen zugetan ist, spielt in Coleridges Gedicht auf einer Laute, die für die Seele des inspirierten Dichters steht, wie ein Liebhaber mit dem Körper eines Mädchens.
Der Wind hat nicht nur phallischen Charakter; da Gott durch ihn im Akt der in-spira-tio dem Dichter Anteil an seinem Geist gibt, ist der Wind auch etwas Beseeltes, deshalb liegt es nahe, dass Inspirationen in Coleridges Gedicht auch durch
pneumatische Wesen verkörpert werden: Elfen, die mit den Winden fliegen:

... And now, it strings
Boldlier swept, the long sequacious notes
Over delicious surges sink and rise,
Such a soft floating witchery of sound
As twilight Elfins make, when they at eve
Voyage on gentle gales from Faery-Land,
Where Melodies round honey-dropping flowers,
Footless and wild, like birds of Paradise,
Nor pause, nor perch, hovering on untam’d wing!

Mit dem Gedanken, dass Inspiration zu einem Kunstwerk von Gott ausgeht, zu dem sterblichen Menschen also aus einem Jenseits, einer höheren, überirdischen Welt, z. B. wie bei Coleridge aus einem Feenland, kommt, lassen sich solche Vorstellungen erklären, dass auch einzelne Teile eines Kunstwerks, zum Beispiel Gedanken oder Bilder eines Gedichtes oder Melodien oder gar einzelne Töne (notes) eines Musikstückes, aus einer anderen, jenseitigen Welt dem Künstler in Gestalt von Winden oder pneumatischen Tieren zufliegen.

Auch in Zwetajewas Mutter und die Musik sind die einzelnen Klänge einer Melodie Vögel, die gleichsam in einer höheren Sphäre, in einer Luftwelt leben und sich zur Erde niederlassen, wenn die kindliche Klavierspielerin die entsprechende Noten auf den Tasten anschlägt, um ein Musikstück, das der Komponist Inspiration verdankt, zum Klingen zu bringen:

... Doch mit den Noten wollte es anfänglich nicht klappen. Die Taste drückt man nieder, aber die Note? Die Taste existiert, da ist sie, schwarz oder weiß, die Note aber existiert nicht, sie liegt auf der Notenlinie (auf welcher?). Die Taste gibt einen Laut, die Note nicht. Die Taste existiert, die Note nicht. Wozu Noten, wenn es Tasten gibt? So verstand ich denn nichts, bis ich eines Tages auf dem Umschlag eines Gratulationsbriefes, den mir Augusta Iwanowna als ‘Glückwunsch’ für meine Mutter überreichte, auf einer Notenlinie statt Noten Spatzen sitzen sah! Damals begriff ich, dass die Noten auf Zweigen leben, jede auf einem eigenen, und dass sie von dort auf die Tasten hüpfen, jede auf ihre eigene. So kommt die Taste zum Erklingen. ... Und wenn ich zu Spielen aufhöre, kehren die Noten auf ihre Zweige zurück und schlafen dort wie die Vögel ... (1)

Zurück zu Coleridges Eolian Harp! Weiter unten wird die vom Wind gespielte Laute als Symbol für den inspirierten Dichter wieder aufgenommen. Das lyrische Ich schildert sich im Halbschlaf, der als "somnambuler Traumzustand, in dem das Unbewusste seine nicht vom Verstand kontrollierten Bilder aussendet" (2), mit dem Zustand der Inspiration verwandt ist (3). Diese "nicht gerufenen" und "nicht zurückgehaltenen" Gedanken und Fantasien haben Merkmale der oben angesprochenen pneumatischen Wesen, welche Inspiration verkörpern, sie gleichen "random gales" und flattern:

Full many a thought uncall’d and undetain’d,
And many idle flitting phantasies,
Traverse my indolent and passive brain,
As wild and various, as the random gales
That swell and flutter on this subject Lute!
...
But thy more serious eye a mild reproof
Darts, O beloved Woman! Nor such thoughts
Dim and unhallow’d dost thou not reject,
And biddest me walk humbly with my God.

Warum lässt sich das lyrische Ich durch einen vorwurfsvollen Blick seiner "beloved Woman" (seiner Ehefrau Sara) daran hindern, sich dieser Fantasie weiter hinzugeben? Obiges Zitat nimmt ja den Vergleich des inspirierten Dichters mit einem Musikinstrument, auf dem Gottes Wind spielt, wieder auf, auch die pneumatischen Wesen kehren in Gestalt wenigstens einiger Merkmale wieder (flutter, gales). Was jedoch nicht wieder aufgenommen wird, ist der archetypische Vergleich des Musikinstruments mit einem Mädchenkörper. Lässt Coleridge die Fantasien seines lyrischen Ichs vielleicht deshalb abbrechen, weil sonst auch dieser sexuelle Aspekt des Inspirationserlebnisses, das Befruchung, ein sublimierter erotischer Akt ist, zum Thema des Nachsinnens des Dichters, der sich in einem somnambulen Zustand, in dem das kontrollierende Bewusstsein zum Teil ausgeschaltet war, geworden wäre? Ich halte das für den Grund der Unterbrechung. Die Abstammung der Inspiration aus Sexualität wäre zu anstößig gewesen. Und wenn C. Paglias Vermutungen, die auf eine passiv-homosexuell-masochistische Sexualität bei Colderidge hinzielen, in die richtige Richtung weisen, wäre dies ein weiterer Grund, zu verhindern, dass der Vergleich des inspirierten Dichters mit einem "passive(n) Instrument, auf dem die männliche Muse und Naturgewalt spielt" (4), in der damaligen prüden Zeit Anstoß erregt hätte.
Um ehrlich zu sein: Mir gefällt die Vorstellung vom inspirierten Dichter als passives Instrument auch nicht. Stimmt es denn wirklich, dass Inspiration den Künstler - um es deutsch und drastisch zu formulieren - zu einer gefickten Frau macht? Keine Gegenbeispiele sind leider auch die bekannten Inspirationsschilderungen von Nietzsche und C.G.Jung. Zwar kommen sie ohne Symbolik, die Inspiration mit einem erotischen Akt verwandt erscheinen lässt, aus, betonen aber die Passivität, ja das Überwältigtwerden des inspirierten Menschen. Nietzsche schreibt in Ecce Homo (Abschnitt Also sprach Zarathustra - 3):

Hat jemand, Ende des neunzehnten Jahrhunderts, einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter I n s p i r a t i o n nannten? Im andren Falle will ich’s beschreiben. - Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, etwas s i c h t b a r, hörbar wird, etwas, das einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand.

Inspiration ist Überwältigung. Der Dichter wird ergriffen, "umgeworfen", er erscheint als Objekt, nicht als handelndes Subjekt. Ein ähnliches Inspirationserlebnis schildert C.G.Jung. Nach der Trennung von Freud wurde er von Bildern und Fantasien heimgesucht, die aus den Tiefen des Unbewussten heraufdrängten und die er deuten musste, um zu entscheidenden Erkenntnissen für seine Psychologie zu kommen. Auch er fühlte sich als passives, überwältigtes Medium (5):

Es blieb mir nichts übrig, als alles in dem vom Unbewussten selbst gewählten Stil aufzuschreiben. Manchmal war es, wie wenn ich es mit den Ohren hörte. Manchmal fühlte ich es mit dem Munde, wie wenn meine Zunge Worte formulierte; und dann kam es vor, dass ich mich selbst Worte flüstern hörte. Unter der Schwelle des Bewusstseins war alles lebendig. Von Anfang an hatte ich die Konfrontation als wissenschaftliches Experiment aufgefasst, das ich mit mir selbst anstellte und an dessen Ausgang ich vital interessiert war. Heute könnte ich allerdings auch sagen: es war ein Experiment, das mit mir angestellt wurde.

Und in dem Aufsatz Analytische Psychologie und dichterisches Kunstwerk (GW 15, § 110) schreibt C.G.Jung:

Unzweifelhaft sage ich auch nichts Neues, wenn ich von der anderen Gattung von Kunstwerken spreche, die mehr oder weniger als Ganzes und Fertiges dem Autor in die Feder fließen, die voll gerüstet, wie Pallas Athene dem Haupte des Zeus entsprang, das Licht der Welt erblicken. Diese Werke drängen sich dem Autor förmlich auf, seine Hand ist gewissermaßen ergriffen, seine Feder schreibt Dinge, deren sein Geist mit Erstaunen gewahr wird. Das Werk bringt seine Form mit; was er dazu tun möchte, wird abgelehnt, was er nicht annehmen will, wird ihm aufgezwungen. Während sein Bewusstsein fassungslos und leer vor dem Phänomen steht, wird er überschüttet mit einer Flut von Gedanken und Bildern, die seine Absicht nie geschaffen hat und die sein Wille niemals hätte hervorbringen wollen. Selbst widerwillig, muss er doch erkennen, dass in all dem sein Selbst aus ihm spricht, dass seine innerste Natur sich selbst offenbart und laut verkündet, was er seiner Zunge nie anvertraut hätte. Er kann nur gehorchen und dem anscheinend fremden Impulse folgen, fühlend, dass sein Werk größer ist als er und darum eine Gewalt über ihn hat, der er nichts vorschreiben kann. Er ist nicht identisch mit dem Prozess der schöpferischen Gestaltung; er ist sich dessen bewusst, dass er unterhalb seines Werkes steht oder zum mindesten daneben, gleichsam wie eine zweite Person, die in den Bannkreis eines fremden Willens geraten ist.

Ist die Rolle des inspirierten Menschen also nichts anderes als passiv, ist er nur willenloses Medium und Objekt, ja gleicht er, wie die Gedichte von Stadler und Coleridge es nahe legen, einer gefickten Frau?
Leider legt das auch eine Äußerung von Leonardo da Vinci über das Genie nahe. Sein Biograph Vasari berichtet: 

Oftmals ließ er die Därme eines Hammels so fein ausputzen, dass man sie in der hohlen Hand hätte halten können; diese trug er in ein großes Zimmer, brachte in eine anstoßende Stube ein paar Schmiedeblasebälge, befestigte daran die Därme und blies sie auf, bis sie das ganze Zimmer einnahmen und man in eine Ecke flüchten musste. So zeigte er, wie sie allmählich durchsichtig und von Luft erfüllt wurden, und indem sie, anfangs auf einen kleinen Raum beschränkt, sich mehr und mehr in den weiten Raum ausbreiteten, verglich er sie mit dem Genie.                            (6)

Leonardo da Vinci war homosexuell, deshalb erlebte er die Inspiration, die ja ein sublimierter Sexualakt ist, homoerotisch als Eindringen des Pneuma per anum. Den Vorgang der Sublimation bildet er nach, indem er die Därme durch sorgfältige Reinigung ihres stinkenden schmutzigen Charakters beraubt und sie zu einer durchsichtigen ätherischen Erscheinung veredelt. Dazu passt auch seine berühmte und viel gedeutete Kindheitserinnerung:

Es scheint, dass es mir schon vorher bestimmt war, mich so gründlich mit dem Milan zu befassen, denn es kommt mir als eine ganz frühe Erinnerung in den Sinn, als ich noch in der Wiege lag, ist ein Milan zu mir herabgekommen, hat mir den Mund mit seinem Schwanz geöffnet und viele Male mit diesem seinem Schwanz gegen meine Lippen gestoßen.               (7)

 Der Milan verkörpert als pneumatisches Tier Gott oder dessen Phallus, den der Künstler in der für Homosexuelle typischen passiven Rolle empfängt: durch den Mund, so dass Freud zu Recht an fellatio denkt (8). Zudem hat Da Vincis Fantasie diese Empfängnis in die früheste Kindheit verlegt, "als ich noch in der Wiege lag", was Freud ebenfalls richtig als Erinnerung an die erste erotische Erfüllung im menschlichen Leben überhaupt deutet: an die Befriedigung durch Saugen an der Mutterbrust (9). Im Gegensatz zu den zitierten Schilderungen C.G.Jungs und Nietzsches, in denen Inspiration den Empfangenden aufwühlt, durch Aufdrängen unheimlicher Inhalte erschüttert, ja fast vergewaltigt, versetzt sie Da Vinci zurück in das Kindheitsparadies, wo Milch und Honig flossen; Inspiration überkam ihn offenbar nicht (nur) mit männlicher Gewalt, sondern verwöhnte ihn mütterlich, er erlebte sie nicht nur passiv als Frau, sondern auch idyllisch als Kind, was an einen Mythos von dem griechischen Dichter Pindar erinnert, den Pausanias 9, 23,2-3 überliefert:

Da Pindar noch ein Jüngling war und nach Thespiai ging, ergriff ihn zur Zeit der größten Mittagshitze Ermattung und davon Schlaf. Er nun legte sich wie er war eine kleine Strecke vom Wege nieder; als er schlief, flogen Bienen herzu und bauten ihre Waben an die Lippen an. Dies war für Pindar der Anfang Gedichte zu machen.

Honig galt den Alten als Götterspeise (10), Inspiration kommt nach archetypischer Auffassung von (einem) Gott - Gottesgabe nennt sie Puschkin - , deshalb lag die Vorstellung nahe, die Gottesgabe Inspiration werde dem Dichter oder Seher als Honig eingeflößt.
Beides sind idyllische Bilder: Wie das Wiegenkind da Vinci vom Milan und der Jüngling Pindar im Schlummer von Bienen besucht wird.
Der Besuch durch pneumatische Tiere bedeutet für beide die Weihe zum Künstler. Pindar - so der Mythos - wurde durch den Bienenbesuch zum Dichter: "Dies war für Pindar der Anfang Gedichte zu machen". Zu Recht deutet Usener solche Erlebnisse als Initiation:

Hier schlägt die Vorstellung ein, dass Seher und Dichter, die Künder göttlichen Worts auf Erden, durch die Götterspeise des Honigs, die ihnen in frühester Jugend auf wunderbare Weise eingeflößt worden, zu ihrem hohen Berufe geweiht worden seien. (11)

Die Deutung lässt sich auf Da Vinci übertragen: Der Besuch des Milans weihte ihn in sehr frühen Jahren zum Künstler. Zwar nährte der Vogel ihn nicht mit Honig, dafür weckte er die Erinnerung an die Zeit, als das Kind mit Milch, die auch als göttliche Speise galt (12), gestillt wurde.
Kommt Inspiration von Gott, wäre der Milan, der Da Vinci besucht, Bote oder Phallus der Gottheit, die wir uns natürlich männlich denken. Auch bei Pindar müsste es ein männlicher Gott sein, der ihm Bienen als Überbringer der Fähigkeit zum Inspiriertwerden sendet. Dieser göttliche Urheber wird nicht genannt, lässt sich aber erschließen, und zwar aus dem Zeitpunkt der Dichterweihe. Es ist Mittag (13), wenn die Sonne am höchsten steht und ihre Kraft an größten ist. Die Sonne aber war in der ursprünglichen Naturreligion eine der höchsten Gottheiten, eine als göttlich verehrte Naturkraft, die durch ihr Licht und ihre Wärme auf die Mutter Erde einwirkt und Pflanzen und Tiere wachsen lässt. Im Zuge der Zivilisierung, der Herausentwicklung der Menschen aus der Barbarei, wurde der Sonnengott vermenschlicht, wurde bei den Griechen Zeus, der aber seine Herkunft nicht verleugnet, da er Spender des himmlischen Feuers und des Tageslichts geblieben ist; sein Name ist mit lateinisch dies "Tag" urverwandt.
Der Sonnengott Zeus ist es, der mit seiner Mittagshitze den zum Dichter Erkorenen mit Schläfrigkeit erfüllt und dem Eingeschlummerten die Gottesgabe Honig schickt und ihn zum Dichter weiht.
Die Inspiration kommt von einem männlichen Vatergott, der potent, streng und furchteinflößend zu sein pflegt, aber sich offenbar manchmal auch von einer verwöhnenden, mütterlichen Seite zeigt. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Mythos von Iamos, den Apoll gezeugt und zum Seher vorherbestimmt hat. Seine Mutter setzte ihn aus, da nahmen sich zwei Schlangen des Neugeborenen an, so Pindar in seiner Sechsten olympischen Ode (45-48):

                           zwei glanzäugige Schlangen
zogen ihn nach der Götter Ratschluss
mit untadeligem Seim der Bienen auf.

Durch die Götterspeise Honig wird er zum Seher geweiht. Eingeflößt wird sie dem Kind von zwei Schlangen, phallischen Tieren, also im Auftrag einer männlichen Gottheit wie zum Beispiel Zeus oder Apoll. Die inspirierende Gottheit ist aggressiv-gefährlicher Mann und süß nährende Frau zugleich, was auch eine uns befremdende Wortwahl des Dichters betont: Iamos wird mit dem "untadeligen Seim der Bienen" aufgezogen, so unser Zitat, das auf der Übersetzung von Oskar Werner (Tusculum Ausgabe) beruht. "Seim" klingt harmlos, im Original aber steht ios "Gift, besonders von Schlangen", ein Begriff, über den wir stolpern, obwohl er eigentlich nicht fehl am Platze ist: Er passt zu den Bienen, die ja einen Stachel mit Gift haben. Und natürlich zu den Schlangen. Ios bezeichnet hier etwas, was vielleicht seine Urbedeutung war, etwas, das den Menschen von Tieren wie Bienen oder Schlangen beigebracht wird: Von Schlangen immer, von Bienen manchmal Gift, hier aber Honig (14) - Inspiration kann etwas Süßes, aber auch etwas Unheimliches, Erschütterndes sein. Und selbst, wenn sich eine Gottheit einem Menschen von ihrer mütterlichen Seite zeigt, legt sie ihre gefährliche Männlichkeit nicht ab (15).

Die beiden Schlangen, die Iamos nähren und zum Seher weihen, haben wir als phallische Wesen gedeutet, als Organe eines männlichen Gottes. Zugleich bietet sich eine andere Deutung an, die auf einer langen Tradition beruht: Seit uralten Zeiten gelten Schlangen als mantische Tiere, die den Menschen Orakel geben oder sie zum Weissagen und Wahrsagen befähigen. So wird von dem griechischen Seher Melampus überliefert, dass ihm, als er schlief, Schlangen beide Ohren ausleckten. Als er aufwachte, befiel ihn große Furcht, aber er verstand die Sprache der Vögel und konnte mit ihrer Hilfe die Zukunft prophezeien (15a).
Die Pythonschlange, die der männliche Gott Apollo tötete und dadurch das Orakel von Delphi seiner Herrschaft unterwarf, galt nicht nur als Wächter dieser Stätte, sondern auch als mantisches Tier, das Orakel gab (15b).
Im Grimmschen Märchen Die weiße Schlange befähigt der Genuss von Schlangenfleisch dazu, die Sprache der Tiere zu verstehen, und dieselbe Gabe verleiht in einem serbischen Märchen,
Die Tiersprache, der Schlangenkönig einem Hirten als Dank für die Rettung seiner Tochter, indem er ihm in den Mund spuckt. Dieser uralte Glaube, dass die Gabe des Wahrsagens und Dichtens von Schlangen herrührt, liegt auch einem berühmten Puschkin-Gedicht zugrunde, das die Weihe eines sterblichen Menschen zum poeta vates schildert: Der Prophet / Prorok. Im Auftrag Gottes reißt ein Engel dem Auserwählten die Zunge heraus und pflanzt ihm eine Schlangenzunge ein, die ihn zum Seher macht. Um inspiriert zu werden, um sich das Wesen der Schlangen anzueignen, ja einzuverleiben, muss der Mensch mit diesen unheimlichen, gefährlichen Tieren  in engsten Kontakt treten, was Unbehagen und Angst erregen kann: Ihr Fleisch verzehren, ihren Speichel schlucken,  sich wie Melampus die Ohren von ihnen auslecken lassen, sich ihre Zunge einpflanzen lassen oder sich wie der kleine Iamos von ihnen füttern lassen. Vielleicht wird so Pindars Doppeldeutigkeit verständlich, als er schildert, wie Iamos ernährt wurde: „zwei … Schlangen zogen ihn … mit untadeligem Seim (15c)/ Gift (15d)/ Zaubertrank (15f) der Bienen auf“. Man kann sich darunter Honig vorstellen und zugleich Bienen- oder Schlangengift. Inspiration ist eine dämonische Gewalt, mit der Gott den Menschen erfüllt, ja heimsucht; sie kann ihn verstören und in den Wahnsinn treiben, ist nicht nur etwas Willkommenes, Süßes, sondern auch etwas Fuchteinflößendes, Gefährliches – deshalb die unheimlich anmutenden Ammen des Iamos, deshalb die blutige Metamorphose des Inspirierten in Puschkins Prophet, dem Zunge und Herz herausgerissen werden, um der Schlangenzunge und der glühenden Kohle Platz zu machen.

Zurück zu unserer Befürchtung, die natürlich nicht zerstreut ist: Ist der inspirierte Künstler nur passives Objekt, gleicht er einer gefickten Frau, einer Schwuchtel, einem Wiegenkind?
Aber sehen wir uns, bevor wir uns mit dem Gedanken abfinden, andere Inspirationsdarstellungen an!

Im altrussischen Igorlied wird geschildert, wie es war, wenn der sagenhafte Sänger Bojan inspiriert war:

Wenn der Seher Bojan einem ersinnen wollte ein Lied, breitete er sich aus und war in den Bäumen, war auf der Erde als grauer Wolf und als Adler, blau-grau, unter den Wolken. Und sooft er dessen gedachte was man erzählt aus vergangenen Zeiten von Zwietracht, ließ er zehn Falken los auf eine Herde von Schwänen: der Schwan, den der erste Falke berührt, hob zu singen an, sang den greisen Jaroslaw, sang Mstislaw den Tapferen, der den Rededa zerhieb vor dem Kassogerheer oder er sang Roman den Schönen Swjätoslawitsch. Doch nein, Brüder, Bojan ließ nicht zehn Falken los auf eine Schar Schwäne; er warf seine erlauchten Finger in lebendige Saiten: die rauschten zum Ruhme der Fürsten.
(Übersetzung: Rainer Maria Rilke)

Auch hier sind Symbole, die uns von Stadler und Coleridge vertraut sind: ein Zupfinstrument als Symbol für Musik und Dichtkunst und pneumatische Tiere: Falken als Verkörperungen der Inspiration. Doch ist der Dichter Bojan kein passives Instrument, auf dem die Naturgewalt des inspirierenden Windes spielt, im Gegenteil: Die Finger des Sängers sind die Falken, die die Saiten, verkörpert durch die Schwäne, berühren. Der Dichter gleicht hier keiner gefickten Frau, sondern hat im künstlerischen Zeugungsakt den männlich-aktiven Part inne.
Auch in Puschkins frühem Gedicht An Batjuschkow haben die Finger des Sängers, die nicht wie im Igorlied mit Windtieren, sondern direkt mit einem Wind verglichen werden, den männlich-aktiven Part inne:

Stimm deine Lyra! Über die Saiten
Flieg mit verspielten Fingern,
Wie ein Zephyr über Blumen im Frühling

Die weiblich-passiven Saiten vergleicht Puschkin mit Blumen, was auch durch die Parallelität der grammatischen Formen po strunam - po cvetam (Präposition po mit Dativ Plural) unterstrichen wird. Blumen sind archetypische Symbole für Mädchen als erotische Objekte; "die Blume pflücken" bedeutet engjungfern, unser Fremdwort dafür, deflorieren, kommt von lateinisch de-flor-are, worin flos, floris "Blume, Blüte" steckt, mehr Beispiele für diesen Archetypus gibt es hier.

Auch in seiner Erzählung Ägyptische Nächte, deren Thema Inspiration und ihre Autonomie gegenüber der Gesellschaft ist (näheres dazu hier), vergleicht Puschkin im ersten Gedicht des Improvisators den inspirierten Dichter mit einem Adler und einem Wind (Aquilo=Nordwind):

Warum wirbelt ein Wind in einer Schlucht,
Wirbelt Laub auf und reißt Staub mit sich,
Während ein Schiff im regungslosen Nass
Gierig auf seinen Hauch wartet?
Warum fliegt von Bergen herab und vorbei an Türmen
Ein Adler, gravitätisch und schrecklich,
Auf einen verkümmerten Baumstumpf? Frag ihn nur!
Warum liebt ihren Mohren
Die junge Desdemona,
Wie der Mond das Dunkel der Nacht?
Weil für Wind und Adler
Und das Herz der Jungfrau kein Gesetz gilt.
So ist auch der Dichter: Wie Aquilo
Reißt er mit sich, was er will -
Dem Adler gleich, fliegt er
Und, ohne irgendjemanden um Erlaubnis zu fragen,
Wählt sich wie Desdemona
Einen Abgott für sein Herz.

Inspiration ist wie Liebe eine höhere Macht, gegen die der Mensch kaum etwas ausrichten kann. Widersetzt er sich ihr nicht, versucht er nicht, sie zu verdrängen, sondern bejaht sie und identifiziert sich mit ihr wie Desdemona mit ihrer Liebe zu Othello, so wird sich der inspirierte Dichter nicht (nur) als Objekt oder gar Opfer des Pneumas, sondern als handelndes Subjekt fühlen, das den aktiv-männlichen Part innehat - er selbst wird Pneuma.

Die Vorstellung vom Dichter als pneumatischem Wesen (Wind oder fliegendes Tier) liegt auch einer Stelle in Platons Ion zugrunde:

... so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernüftigem Bewusstsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind, dann werden sie den Bacchen ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres Bewusstseins mächtig, dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, dass sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflückend diese Gesänge uns bringen, wie die Bienen, auch selbst so umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewusstlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. ...
Nämlich nicht durch Kunst bringen sie dies hervor, sondern durch göttliche Kraft.
(534a-c, Übersetzung: Friedrich Schleiermacher)

Auch hier ist Inspiration als Akt der Befruchtung in höherem Sinne dargestellt. Das pneumatische Tier, die Biene (16) hat den männlich-aktiven Part inne, während den Blumen, die auch hier als archetypisches Symbol für Mädchen stehen, der passiv-weibliche Part zukommt. Der Saugrüssel der Biene dringt in die Blüte ein, der Zeugungsakt ist süßer Genuss.

Nicht nur männliche, sondern auch weibliche Dichter oder Seher können die Inspiration auch männlich-aktiv erleben und dabei sich selbst mit dem pneumatischen Tier identifizieren: "Delphische Biene" nennt Pindar in seiner Vierten pythischen Ode (60) die Pythia, Priesterin in Delphi, wenn sie von Apoll zu Weissagungen inspiriert ist.

Männlich-aktiv erlebt sich Pindar als inspirierter Dichter auch in seiner Dritten nemeischen Ode 76-82:

             Gruß dir, Freund! Ich sende dir
Dies hier: mit Milch, mit weißer, gemischten
Honig; zugegossener Tau umperlt ihn, den Trank,
Der als Chorgesang sich eint aiolischem Hauchgetön der Flöten;
Spät zwar. Doch ist der Aar hurtig unter den Beschwingten,
Der plötzlich ergreift, von ferne hinter ihr herspähnd, die blut-
ige Beute mit seinen Klaun.
Übersetzung: Oskar Werner)

Das Gemisch aus Milch und Honig ist die Ode. Der Dichter lässt sich diese Gottesgabe nicht (nur) bringen und einflößen, sondern ist selbst der Überbringer. Und der letzte Satz des Zitats, der den Dichter mit einem Raubvogel, der seine Beute ergriffen hat, vergleicht, erinnert an die oben angeführte Stelle aus dem Igorlied, die ebenfalls kühne Männlichkeit atmet.

So, in den Zitaten von Puschkin, Platon, Pindar und aus dem Igorlied ist der Dichter und sogar eine Seherin das Gegenteil einer gefickten Frau! Wir atmen erleichtert auf. Aber: Verleiten diese Zitate nicht dazu, ins andere Extrem zu verfallen? Der Dichter wird ja zur Inspiration selbst, verkörpert - psychoanalytisch gesprochen - den göttlichen Phallus, wird zu einem Teil Gottes. Ist das nicht Hybris? Artet Geniekult in Größenwahn aus? Ist der Dichter nun eine gefickte Frau oder Finger oder gar Phallus Gottes? Ich schlage einen Mittelweg zwischen beiden Extremen vor und wende mich einem Werk zu, in dem es auch um Inspiration durch Gott geht, Schillers Jungfrau von Orleans. In der Heldin sind Männliches und Weibliches vereint. Sie ist eine Frau, aber Gott erfüllt sie mit seiner männlichen Kraft, so dass sie Männer im Zweikampf besiegen und ihre Landsleute, die Franzosen, zu kriegerischem Mut inspirieren kann.
"Gott erfüllt sie mit seiner männlichen Kraft..." - wir sind mit dieser Formulierung noch nicht so recht zufrieden, legt sie doch nahe, dass sich die virtus, der männlich-kriegerische Geist der Jungfrau nur Gottes Gnade verdankt, nicht zu ihrem Wesen gehört, so dass sie nur durch Hilfe von oben keine schwache Frau ist. Aus diesem Dilemma hilft uns die folgende Stelle, die ihr ein angeborenes männliches Herz zuspricht (194-204):

Lasst ihr den Willen!
Wohl ziemt ihr dieser kriegerische Schmuck,
Denn ihre Brust verschließt ein männlich Herz.
Denkt nach, wie sie den Tigerwolf bezwang,
Das grimmig wilde Tier, das unsre Herden
Verwüstete, den Schrecken aller Hirten.
Sie ganz allein, die löwenherz’ge Jungfrau,
Stritt mit dem Wolf und rang das Lamm ihm ab;
Das er im blut’gen Rachen schon davontrug.
Welch tapfres Haupt auch dieser Helm bedeckt,
Er kann kein würdigeres zieren.

Gott hat Johanna als Medium, durch das er seinen kriegerischen Geist an die Franzosen weitergibt, ausgewählt, weil sie ausgeprägte männliche Züge aufweist. Da der Mensch durch das Erbgut beider Elternteile geprägt wird, hat jede Frau männliche und jeder Mann weibliche Persönlichkeitsanteile. Bei Johanna sind die männlichen Anteile besonders stark, deshalb wurde sie zum Medium kriegerischer Inspiration erwählt, die bei ihr also nicht nur von oben kommt. Dazu passt ein kurzes Gedicht von Goethe:

Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Die Sonne könnt es nie erblicken;
Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken?

Der Mensch ist (des Sonnen)Gottes Ebenbild (17), Gott hat ihn geschaffen, so liegt auch in ihm Kraft und Weisheit Gottes, natürlich in wesentlich geringerem Maße. Wir Menschen haben Anteil an "Gottes eigener Kraft" - das ist Grund zum Stolz. Aber ohne Veranlassung durch Gott, ohne Inspiration können wir nichts damit anfangen - das ist Grund zur Bescheidenheit.
Das Auge ist sonnenhaft, deshalb kann es die Sonne erblicken, Johannas Seele ist mannhaft, deshalb kann sie mit männlich-kriegerischem Geist inspiriert werden, ebenso ist bei Horaz Carm. IV, 2 der Dichter windhaft, so dass ihn der Wind emportragen kann, was als Metapher für Inspiration steht:

Multa Dircaeum levat aura cycnum,
Tendit, Antoni, quotiens in altos
Nubium tractus ...

Mächtiger Lufthauch hebt, o Antonius, den Thebanischen Schwan,
So oft er zu den hohen Wolkenzügen
strebt, empor ...
(Übersetzung: Walter Wili, zitiert nachWaszink, a.a.O. in Fußnote 6, S. 23)

Mit dem Thebanischen Schwan ist Pindar gemeint. Er ist windhaft, weil er mit dem Wind etwas Entscheidendes gemein hat, das Vermögen zu fliegen; er ist ein pneumatisches Wesen, deshalb kann das Pneuma ihn erfassen.

Inspiration ist Befuchtung, ein Zeugungsakt in höherem Sinne, bei dem die Seele des Dichters Empfangende und Aktive zugleich ist, sowohl ihre weiblichen , als auch ihre männlichen Züge sind beteiligt, es ist ein ganzheitlicher Vorgang, auch wenn bestimmte Dichter wie Stadler oder Coleridge es eher als passiv Empfangende, und andere eher als männlich-aktiv Gestaltende erleben.

Das Zusammenspiel beider Seelenanteile bei der Inspiration wird in Puschkins Gedicht Herbst anschaulich. Die Seele des inspirierten Dichters gleicht einem Schiff mit seiner Mannschaft, für die Inspiration steht das Pneuma, der Wind:

Doch horch! - Plötzlich geraten die Matrosen in Bewegung, kriechen
hinauf, hinunter - und die Segel haben sich gebläht, des Windes voll;
Die schwere Masse des Schiffes ist in Bewegung gekommen und pflügt die Wogen

Die Inspiration aktiviert nicht nur die weiblich-empfangenden, sondern auch die männlich-gestaltenden Seelenanteile des Künstlers. Das Schiff, das seine Insassen vor dem Ertrinken bewahrt, sie birgt, ist ein Mutter-Symbol, also weiblich, die Segel, die den Wind empfangen, von ihm "voll", "gebläht", gleichsam schwanger werden, sind ebenfalls weibliche Symbole. Das männlich-gestaltende Prinzip verkörpern die kühnen Matrosen. Auch sie bringt der Windstoß in Bewegung, sie verhindern, dass der Wind das Schiff in die falsche Richtung, in die Irre treibt, die Segel zerreißt oder gar das Schiff zum Kentern bringt. Sie halten das weibliche Prinzip Schiff unter Kontrolle, nehmen dem Wind seine Gefährlichkeit und gestalten die Fahrt; über das Pneuma selbst, seine Stärke, seine Richtung, die Zeit seines Wehens haben sie keine Macht (18).
Ist das Dichter-Schiff nicht solide gebaut oder zu leicht, eine Nussschale, sind seine Segel Flickwerk oder aus zu dünnem Stoff, ist seine Männlichkeit, seine virtus, seine Standhaftigkeit so schwach, dass sie nur Matrosen ähnelt, die sich vor dem Sturm im Bauch ihres Schiffes verkriechen, kann das Pneuma es verschlagen, ja zerstören. Das Bild vom windgetriebenen Schiff zeigt Inspiration als Naturgewalt, und Naturgewalten können ja auch destruktiv sein – von diesem gefährlichen Aspekt der Inspiration spricht Puschkin zwar nicht ausdrücklich in Осень / Der Herbst, wohl aber in einem Gedicht, das im selben Jahr, 1833, entstand, Не дай мне Бог сойти с ума / Möge Gott mich nicht verrückt werden lassen, wo das Pneuma zum verheerenden Wirbelsturm anschwillt und den Dichter ins Irrenhaus bringen kann – wir gehen unten darauf ein.

Um Inspirationen destruktiven Inhalts kreist auch Marina Zwetajewas Essay Искусство при свете совести / Die Kunst im Lichte des Gewissens. Es geht um Todessehnsucht, selbstmörderische Anwandlungen oder – psychoanalytisch gesprochen – um den Todestrieb, der laut Freud in jedem Lebewesen wirksam sein soll. Goethe wurde davon aus Liebeskummer gepackt und schuf seinen Werther, um diesen Drang zu verarbeiten; so befreite er sich selbst davon, inspirierte aber viele Leser zum Selbstmord. Oder Puschkin, der 1830 das Pestlied schuf und seiner von John Wilson übernommenen Dramenfigur Walsingham in den Mund legte, um seine eigene Todesangst vor der damals wütenden Cholera zu bannen, indem er sie ins „Positive“ wendete. So entstand ein Gedicht, das den Kick, den die allgegenwärtige Todesgefahr bereitet, verherrlicht, eine Hymne auf die Pest, vom Todestrieb inspiriert. Solchen Inspirationen – fordert Zwetajewa – muss der Dichter gewachsen sein nach dem Vorbild Goethes und Puschkins, die sich vom Werther bzw. Walsingham in sich nicht in den Tod reißen ließen:

Das Herabkommen, die Ausgießung der Naturgewalten – ganz gleich auf wen, heute – auf Puschkin. Puschkin ist in dem Liedchen der Wilsonschen Tragödie (19) allererst dadurch genial, dass es AUF IHN HERABKAM, DASS ES IHN ÜBERKAM.
Genie ist die höchste Stufe des Ausgeliefertseins an das Überkommenwerden – das zum einen, und des Fertigwerdens mit diesem Überkommenwerden – das zum zweiten. Die höchste Stufe der Auffaltung der Seele und die höchste ihrer Geschlossenheit. Die höchste der Passivität und die höchste der Aktivität.
Sich vernichten lassen bis auf ein allerletztes Atom, aus dessen Überleben (dessen Widerstand) dann eben eine ganze Welt erwächst.
Denn gerade in diesem, diesem und keinem anderen Atom des Widerstehens (der Widerstandsfähigkeit) liegt die ganze Chance der Menschheit für das Genie. Ohne das gibt es kein Genie, sondern nur einen zermalmten Menschen, der (er ist immer noch derselbe!) nicht nur gegen die Wände der Bedlams und Charentons anrennt, sondern auch gegen die wohlsituierten Bürgerstuben.                                                                    (20)

Bedlam und Charenton waren, als der Essay entstand, berühmte (und berüchtigte) Irrenhäuser in England bzw. Frankreich; nach Charenton hatte das Schicksal den Marquis de Sade verschlagen – er war nicht wahnsinnig, aber seine pornographischen und grausamen Obsessionen, ja seine Mordlust wurden nicht im geringsten – wie Zwetajewa in ihrem Essay fordert – von Besonnenheit und Gewissen eingeschränkt; sie erwähnt diesen berühmten Insassen nicht im Text, aber hat vielleicht, als sie Charenton als Beispiel anführte, an ihn gedacht.

Zwetajewas Erkenntnis, dass sich der Dichter von der Inspiration packen, aber nicht umhauen oder gar geistig zerstören lassen soll, erscheint auch als Vorstellung von der sobria ebrietas, der nüchternen Trunkenheit (21). So warnt Schiller in einem Brief vom 24. November 1796 den Adressaten Hölderlin davor, „die Nüchernheit in der Begeisterung zu verlieren“, und Hölderlin schreibt im Aufsatz Reflexion (22):

Das ist das Maß Begeisterung, das jedem Einzelnen gegeben ist, dass der eine bei größerem, der andere nur bei schwächerem Feuer die Besinnung noch im nötigen Grade behält. Da wo die Nüchternheit dich verlässt, da ist die Grenze deiner Begeisterung. Der große Dichter ist niemals von sich selbst verlassen, er mag sich so weit über sich selbst erheben, als er will. Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe. Das letztere verhindert der elastische Geist, das erstere die Schwerkraft, die in nüchternem Besinnen liegt.

Von Raserei (furor poeticus) ergriffen muss der Dichter an seinem Bewusstsein festhalten, denn Inspiration ist fruchtbar und furchtbar, sie zeugt und zerstört, Hölderlin vergleicht sie in seiner Hymne Wie wenn am Feiertage mit einem Gewitter, das als Entladung von Elementarkräften mit seinem Regen die Natur belebt, sie zu Wachstum und Blüte anregt und mit seinen Blitzen vernichtend wirkt:

Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern,
Ihr Dichter! Mit entblößtem Haupte zu stehen,
Des Vaters Strahl, ihn selbst, mit eigner Hand
Zu fassen und dem Volk ins Lied
Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen.

Weil Blitze zeugen und zugleich vernichten, vergleicht Hölderlin sie mit dem Blitz des Himmelsgottes Zeus, der Semele verbrennt und Dionysos zeugt:

So fiel, wie Dichter sagen, da sie sichtbar
Den Gott zu sehen begehrte, sein Blitz auf Semeles Haus
Und die göttlichgetroffne gebar,
Die Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus.

Im Semele-Mythos wird Zeus wieder, was er ursprünglich war, bevor er vermenschlicht wurde: die obere himmlische Naturkraft Gewitter. Der Blitz ist seine Waffe und sein Phallus, womit er zeugt und zerstört (23).  Semele, seine Geliebte, argwöhnte, er könne ein Hochstapler sein, der sich nur als Zeus ausgibt, und verlangte als Beweis, dass er sich ihr in derselben Gestalt wie Hera, seiner Schwester und Gattin, vermähle. Hera war ursprünglich Mutter Erde, auf die der Himmelsgott Zeus mit seinem Licht, seiner Wärme, Regen, Donner und Blitz befruchtend und wachstumsfördernd einwirkt. Die sterbliche Semele war seinem himmlischen Feuer nicht gewachsen und wurde von seinem Phallus, dem Blitz, verbrannt. Hölderlin vergleicht den Dichter mit Semele und ahnt damit sein eigenes Schicksal voraus: Den Inspirationen war er auf Dauer nicht gewachsen, sein Geist zerbrach daran, er wurde wahnsinnig.

Für Inspiration als Elementargewalt, bei der auch zerstörerische Energien freigesetzt werden und die deshalb aufgefangen, gelenkt werden muss, bietet sich als Metapher neben dem Gewitter auch der Krieg an, und für die kontrollierende Instanz der Feldherr. So erwähnt Hölderlin in seiner Reflexion, die hauptsächlich der Begeisterung des Dichters gewidmet ist, auch die von Besonnenheit gezügelte kriegerische Begeisterung des Feldherrn als verwandt mit dem furor poeticus:

Es gibt Grade der Begeisterung. Von der Lustigkeit an, die wohl der unterste ist, bis zur Begeisterung des Feldherrn, der mitten in der Schlacht unter Besonnenheit den Genius mächtig erhält, gibt es eine unendliche Stufenleiter. Auf dieser auf- und abzusteigen, ist Beruf und Wonne des Dichters.

Auch in Hölderlins Wie wenn am Feiertage… gesellt sich zum Vergleich Inspiration-Gewitter der Vergleich der dichterischen Begeisterung mit Kriegsgetümmel:

Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht,
Und hoch vom Aether bis zum Abgrund nieder
Nach festem Gesetze, wie einst, aus heiligem Chaos gezeugt,
Fühlt neu die Begeisterung sich,
Die Allerschaffende, wieder.

Auch der Zwetajewa drängt sich in Die Kunst im Lichte des Gewissens, als es ihr um die Zügelung der gefährlichen Elementargewalt Inspiration durch „Verstand“ und „Gewissen“ geht, der Vergleich mit Soldaten, also mit Krieg, auf:

Das moralische Gesetz wird von außen an die Kunst herangetragen, aber kann ein Landsknecht, verdorben vom Dienst unter so vielen Herren, jemals Soldat einer regulären Armee werden?                                                                                       (24)

Die Aggressivität, das Destruktive, dessen Träger die Soldaten sind, und das im Krieg aktiviert wird, soll gemäßigt werden: Nicht wie bei Hölderlin durch die besonnene Befehlsgewalt des Feldherrn, aber durch die militärische Disziplin, zu der die Soldaten erzogen (gedrillt) wurden (und die sie hoffentlich verinnerlicht haben, so dass ritterliches Verhalten daraus fließt).  Doch dürfte Marina Zwetajewa hier nicht allzu optimistisch sein, was ihre Assoziation zu Landsknechten verrät, die besonders seit dem Dreißigjährigen Krieg als zügellos marodierende Söldlinge verrufen sind.
Wir sagten, auch angeregt von Zwetajewas Essay, die Naturgewalt Inspiration müsse „gelenkt“, „gemäßigt“, „eingeschränkt“, „gezügelt“, „kontrolliert“ werden – diese Begriffe sind schon zu stark! Denn sie fordern vom Dichter oder Propheten, er solle die Inspiration, die doch von einer übermenschlichen Instanz, von Gott (oder vom Teufel?) stammt, sich  gefügig machen, sich zurechtstutzen. Wer das empfiehlt, sei von Schillers Fabel Pegasus im Joche gewarnt. Aber auch Zwetajewa relativiert in ihrem (öfter nicht souverän, sondern verstört wirkenden) Essay solche Hoffnungen wieder:

„Das apollinische Prinzip“, „das goldne Gefühl des Maßes“ – seht ihr denn nicht, dass das weiter nichts ist als: in den Ohren eines Gymnasiasten hängengebliebenes Latein.       (S. 78)

Inspiration erscheint nicht nur als Wind (Pneuma), sondern in Gestalt aller Naturkräfte, die von oben, vom Himmels- und Sonnengott kommen: als Sonne, ihr Licht und ihre Wärme, Regen, Gewitter mit Donner und Blitz - als Sonne in Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Die Schwäne sind archetypisches Symbol für inspirierte Dichter (Beispiele in diesem Text stammen aus dem Igorlied, von Horaz und unten von Tjuttschew). Die Dichter-Schwäne sind trunken, be-geist-ert, in-spir-iert vom Sonnengott. Doch wie kommen wir darauf? Dass es die Sonne ist, die die Schwäne küsst, wird ja nicht gesagt, sie wird in der ersten Strophe, in der es um die Schwäne und ihre Trunkenheit geht, nicht einmal genannt.  Trotzdem ist sie in der Sommerlandschaft anwesend und wirkt. Wer ließ denn die Birnen reifen, so dass sie gelb sind, wenn nicht der Sonnengott mit seinem Licht und seiner Wärme? Und in der zweiten, der Winter-Strophe, zählt das lyrische Ich klagend auf, was es im Winter vermissen wird, wozu auch der Sonnenschein gehört. Der Himmelsgott hat die Dichter-Schwäne inspiriert, mit seiner phallischen Ausstrahlung trunken gemacht, so dass von ihnen gilt, was Hölderlin in seiner Hymne Wie wenn am Feiertage… von den Dichtern sagt:

Und wie im Aug ein Feuer dem Manne glänzt,
Wenn hohes er entwarf, so ist

Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter

Und daher trinken himmlisches Feuer jetzt
Die Erdensöhne ohne Gefahr.

Einziger Unterschied: In der Hymne werden die Dichter vom Blitz inspiriert, in Hälfte des Lebens von der Sonne – beide aber sind, poetisch-archetypisch gesprochen, „himmlisches Feuer“ (25).

Bei Hölderlin "ist ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter", Feuer brennt auch im Busen des poeta vates, dessen Erleuchtung Puschkins berühmtes Gedicht Der Prophet / Пророк schildert. Denn eine Kohle, die Gott durch einen Engel dem Auserwählten in die gewaltsam geöffnete Brust legen lässt, glüht ("угль, пылающий огнем"),  ist also Trägerin göttlichen Feuers, das den Dichter inspiriert.

Himmlisches Feuer kann den Dichter nicht nur inspirieren, sondern auch zerstören, verbrennen, da seine göttliche Gewalt dem Menschen gefährlich wird, wenn er ihr nicht gewachsen ist – deshalb wird in der Hymne an das Schicksal der Semele gemahnt, die vom Blitzstrahl des Himmelsgottes Zeus befruchtet – der Gott Dionysos wird gezeugt – und verbrannt wird. In Hälfte des Lebens wird die fruchtbare und zugleich gefährliche Erregung, die dionysische Trunkenheit durch das himmlische Feuer, das die Dichter-Schwäne erfüllt, von einer ausgleichenden Gegenkraft, dem „nüchternen“ Wasser (26) empfangen und aufgefangen, es kommt zu einer Abkühlung (27), was auch in der Hymne der Fall ist: Gehen elektrisch-sexuelle Spannungen als Blitz ab, ist ihre Entladung im Gewitter nicht nur gefährlich-zerstörerisch, sondern führt auch zu Spannungsabbau, zu Beruhigung, Abkühlung:

Ein Landmann geht des Morgens, wenn
Aus heißer Nacht die kühlenden Blitze fielen

Die Dichter-Schwäne tauchen ihre Köpfe in das kühle, nüchterne Nass, damit es das Feuer empfängt, das der Sonnengott in ihren Seelen entzündet hat – es ist ein hieros gamos (28), ein Sexualakt in höherem Sinne, der die Spannungen zur Entfaltung bringt und dadurch zugleich abbaut.
Hat bei diesem Zeugungsakt der Schwan nun den männlichen oder weiblichen Part inne? Er empfängt die phallische Ausstrahlung des Sonnengotts: Licht und Wärme, und wird dadurch erregt – das ist weiblich. Doch zugleich wird dadurch seine Männlichkeit aktiviert: Sein Haupt, das mit den Augen die Sonne trank, deren Feuer in seiner Seele glüht und in seinen Augen glänzt, steckt er in den mütterlichen Urgrund des Wassers – das ist natürlich männlich. Der Dichter-Schwan ist in Hälfte des Lebens beides. Es kommt, wie so oft bei einem hieros gamos – zu einer coniunctio oppositorum, einer Vereinigung polarer Gegensätze.

Diese coniunctio oppositorum, von Männlichem und Weiblichem, oberer und unterer Hälfte des Kosmos, also von Äther und Gewässer, ist auch Thema eines Gedichts von Tjutschew mit dem Titel Лебедь/Schwan:

Пускай орел за облаками                       Mag der Adler über den Wolken                   
Встречает молнии полет                         dem Flug der Blitze begegnen
И неподвижными очами                         und unbewegten Augs 
В себя впивает солнца свет.                   das Licht der Sonne trinken.

Но нет завиднее удела,                         Aber kein Los ist des Neides werter, 
О лебедь чистый, твоего -                      o reiner Schwan, als deines -
И чистой, как ты сам, одело                   und rein wie du selbst ist das Element,
Тебя стихией божество.                          in das die Gottheit dich kleidet.

Она, между двойною бездной,               Es hegt, zwischen zweifachem Abgrund,
Лелеет твой всезрящий сон -                  deinen allsichtigen Schlaf -
И полной славой тверди звездной          und die ungeteilte Herrlichkeit der Sternenfeste
Ты отовсюду окружен.                            umgibt dich von allen Seiten.                        

Der Adler als himmlisch-männliches Tier, das von seinen Artgenossen, den Blitzen, nicht getroffen wird und seinen Vater, den Sonnengott, anzusehen vermag (29), hat ein erhabenes, doch unvollständiges Wesen. Beneidenswerter ist das Wesen des Schwans, der an beiden Sphären, der männlich-himmlischen und der mütterlich-feuchten, Anteil hat – dies dürfte auch der Grund sein, warum in der oben zitierten Stelle aus dem Igorlied die Raubvögel Jagd auf Schwäne machen, denn die Falken sind nur männlich und suchen zur Ganzwerdung das Weibliche in den Schwänen – erst die Vereinigung von beiden führt zum Zeugungsakt der Inspiration, die ein hieros gamos ist.

Die Naturgewalt Inspiration überkommt den Dichter, macht ihn zum willenlosen Objekt, zur gefickten, vergewaltigten Frau und kann ihn sogar zerbrechen, es sei denn, sein männlicher Seelenanteil ist stark genug, um ihr standzuhalten, oder sein weiblicher Seelenanteil ist stark genug, um sie aufzufangen als fruchtbarer Boden, ohne (allzu sehr) beschädigt zu werden. Hölderlins Geist wurde schließlich zerstört, mit Recht dachte er an Semele, sein Schicksal erinnert an einen anderen großen Inspirierten, dessen Geist ebenfalls zerbrach, Friedrich Nietzsche. Von ihm stammt das Gedicht Ecce Homo:

Ja! Ich weiß, woher ich stamme!
Ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle alles, was ich lasse:
Flamme bin ich sicherlich!

Er ist ganz Feuer: Blitz des Zeus oder der oberste Gott in Feuergestalt selbst (30). Wir wissen, dass er an Größenwahn erkrankte und hätten ihm etwas von der Bescheidenheit und (Gottes)Furcht einer Zwetajewa gewünscht oder eines Hölderlin, der sich auch als Inspirierter nicht mit Gott identifizierte, sondern – manchmal – mit Semele. Wie aber muss Nietzsche denn Angst vor Semeles Schicksal haben, wo er doch Gott selber ist und selber andere erleuchtet und verbrennt – vielleicht hat er sich aus Angst, geistig zerbrochen zu werden, in diese Identifizierung mit Gott, in seinen Größenwahn, geflüchtet – Demut hat auch das Genie nötig.

Im Gegensatz zu Nietzsche ließ die – heilsame – Angst, als Inspirierter wahnsinnig zu werden, Puschkin nicht los. Davon zeugt sein Gedicht Не дай мне Бог сойти с ума. Er weiß, was dem von der Naturgewalt Inspiration Gepackten widerfahren kann, wenn er die Distanz vollkommen verliert und sich mit ihr uneingeschränkt identifiziert, das heißt, sich von ihr dahinraffen lässt:

И силен, волен был бы я,                              Und stark und frei wäre ich
Как вихорь, роющий поля,                            Wie ein Wirbelsturm, der Felder aufwühlt
    Ломающий леса.                                       Und Wälder knickt.

Der Inspirierte des Gedichts, den das Pneuma als Elementargewalt gepackt hat, fühlt sich selbst als göttliche Macht, als Pneuma, seine durch nichts gezügelten Kräfte sind übermenschlich und zerstörerisch: Mutter Erde, bzw. Mutter Natur, die für den weiblichen Seelenanteil steht, der die Gewalt der Inspiration empfangen und auffangen soll, wird nicht (nur) befruchtet, sondern aufgerissen und beschädigt – das Genie steht mit einem Bein im Irrenhaus:

Да вот беда: сойди с ума,                               Das Dumme ist: Wirst du verrückt,
И страшен будешь как чума,                           Dann bist du schrecklich wie die Pest,
    Как раз тебя запрут,                                     Sie sperren dich ins Irrenhaus,
Посадят на цепь дурака                                   Ketten dich an,
И сквозь решётку как зверка                            Versammeln sich draußen 
    Дразнить тебя придут.                                  Und necken dich durchs Gitter
                                                                        wie ein wildes Tierchen. 

Weitere Beispiele:

Puschkin, A.S.: Der Prophet (Prorok)

Zwetajewa: Ich bin ein Blatt für deine Feder

1) Marina Zwetajewa: Mutter und die Musik. Suhrkamp 1987, S. 12, Übersetzung: Ilma Rakusa

2) Camille Paglia: Die Masken der Sexualität. 1995, S. 394

3) Solch einen Zustand nannte C.G.Jung Abaissement du niveau mental. Vgl. dazu den entsprechenden Artikel in: Wörterbuch der analytischen Psychologie. 2003

4) Paglia, a.a.O., S. 394

5) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G.Jung. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. Walter-Verlag 2001, S. 181 (Kapitel Die Auseinandersetzung mit dem Unbewussten)

6) Zitiert nach Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. In: Gesammelte Werke VIII, S. 199f.

7) Zitiert nach S. Freud, a.a.O., S. 150, wobei ich natürlich den Geier durch einen Milan ersetzt habe. Freuds Deutung basiert bekanntlich leider auf einer Übersetzung, die nibbio falsch mit Geier wiedergibt. Der Geier galt seit dem Altertum als weibliches Tier, das vom Wind befruchtet wird, so dass Freud diesen Vogel als Symbol für Leonardos Homosexualität interpretierte.  Seine Darstellung von Da Vincis Sexualität als passiv-homoerotische, an die sich meine Deutung anschließt, erscheint mir trotzdem als stimmig.

8) Freud, a.a.O., S.154f.

9) Freud, a.a.O., S. 154f.: "Die Neigung, das Glied des Mannes in den Mund zu nehmen, um daran zu saugen, die in der bürgerlichen Gesellschaft zu den abscheulichen sexuellen Perversionen gerechnet wird, kommt auch bei den Frauen unserer Zeit - und, wie alte Bildwerke beweisen, auch früherer Zeiten - sehr häufig vor und scheint im Zustande der Verliebtheit ihren anstößigen Charakter völlig abzustreifen.
...
Die Nachforschung lehrt uns denn auch, dass diese von der Sitte so schwer geächtete Situation die harmloseste Ableitung zulässt. Sie ist nichts anderes als die Umarbeitung einer anderen Situation, in welcher wir uns einst alle behaglich fühlten, als wir im Säuglingsalter ('essendo io in culla') die Brustwarze der Mutter oder Amme in den Mund nahmen, um an ihr zu saugen. Der organische Eindruck dieses unseres ersten Lebensgenusses ist wohl unzerstörbar eingeprägt geblieben; wenn das Kind später das Euter der Kuh kennenlernt, das seiner Funktion nach einer Brustwarze, seiner Gestalt und Lage am Unterleib nach aber einem Penis gleichkommt, hat es die Vorstufe für die spätere Bildung jener anstößigen sexuellen Phantasie gewonnen."

10) Belege bei Hermann Usener: Milch und Honig. In: Rheinisches Museum 57 (1902), S. 178

11) Usener, a.a.O., S. 179

12) Zu Milch als Göttergabe zahlreiche Belege bei Usener, a.a.O. im gesamten Aufsatz

13) Die Mittagsstunde gilt seit alters als Zeit göttlichen Wirkens - vgl. Wolfgang Speyer: Mittag und Mitternacht als heilige Zeiten in Antike und Christentum. In: Wolfgang Speyer: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. 1989

14) Eine verwandte Ambivalenz hat auch der Begriff pharmakon, der Heilmittel und Gift zugleich bedeutet - ein Doppelcharakter, der durchaus der Realität entspricht: Dosis facit venenum. Die Dosierung entscheidet, ob  etwas fördernd oder schädlich wirkt. Selbst Sauerstoff, ohne den wir nicht leben können, schadet in Überdosis. Manch ein Tiefseetaucher weiß von Sauerstoffvergiftung ein Lied zu singen.
Zudem werden gewisse Schlagengifte auch als Heilmittel eingesetzt und zum Äskulapstab, aus dem Altertum stammendes Symbol unserer Apotheken und für das Gesundheitswesen überhaupt, gehört eine Schlange!

15) Zeus' mütterlich-hegende Seite zeigt sich zum Beispiel im Schicksal des Dionysos, der als Ungeborenes seine Mutter durch Blitztod verlor. Zeus nähte ihn in seinen Schenkel ein und trug ihn aus.

15a) Bibliothek des Apollodor 1,9,11

15b) Hyginus: Fabulae 140: „Python Terrae filius draco ingens. Hic ante Apollinem ex oraculo in monte Parnasso responsa dare solitus erat.” / Hesychius: “Puthon daimonion mantikon” vgl. Erwin Rohde: Psyche, S. 133f. Fußnote 1

15c) Übersetzung von Oskar Werner

15d) Wörtliche Übersetzung

15f) So übersetzt (und deutet) Jan Hendrik Waszink: Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung in der griechisch-römischen Antike, S. 11

16) Der Vergleich Dichter-Biene ist in der antiken Literatur ein Topos, der sich zum Beispiel in der 10. Ode des Bakchylides (Siegeslied für Aglaos von Athen) findet: "für Aglaos hat auch heute seiner Schwester Gemahl die Inselbewohnerin aufgerufen, die helltönende Biene, damit zur Hand ein unsterbliches Kleinod der Musen den Menschen sei zu allgemeiner Freude" - Übersetzung: H. Maehler, zitiert nach:
Jan H. Waszink: Biene und Honig als Symbol des Dichters und der Dichtung in der griechisch-römischen Antike. 1974 - dort finden sich weitere Beispiele.

17) Gott ist hier die Sonne. Dieses Gedicht atmet griechisch-heidnischen Geist wie auch Goethes Sonnenode Ganymed.

18) Das Pneuma ist autonom. Die Autonomie der Inspiration, die der Mensch zu respektieren hat, ist Hauptthema von Puschkins Erzählung Ägyptische Nächte.

19) Marina Zwetajewa spricht von Puschkins Tragödie Пир во время Чумы / Das Gelage während der Pest. Es handelt sich um eine Szene aus John Wilsons Stück The City of the Plague, die Puschkin ins Russische übertragen und in die er sein Pestlied als eigene Schöpfung eingebaut hat.

20) Übersetzung: Rolf-Dietrich Keil; zitiert aus: Marina Zwetajewa: Ein gefangener Geist. Essays. Suhrkamp 1989, S. 73f.

21) Vgl. Jochen Schmidt: „Sobria ebrietas“. Hölderlins Hälfte des Lebens. In: Gedichte und Interpretationen Bd 3: Klassik und Romantik. Reclam 1984

22) Hölderlin: Sämtliche Werke (Kleine Stuttgarter Ausgabe) Bd 4, S. 243ff.

23) Mehr zum Archetypus Zeus als Himmels- und Gewittergott hier

24) a.a.O., S. 71

25) ) Vgl. C.G.Jung: Symbole der Wandlung (GW V) § 135: „Der sichtbare Vater der Welt aber ist die Sonne, das himmlische Feuer, daher Vater, Gott, Sonne, Feuer mythologische Synonyme sind.“

26) Mehr zum Archetypus Wasser als Mutter hier

27) ) Vgl. Jochen Schmidt a.a.O., S. 260ff.: „Die auffälligste und zugleich aufschlussreichste Prägung des ganzen Gedichts ist das Wort „heilignüchtern“. Dessen harmonische Entgegensetzung zum ‚Trunkenen‘ deutet auf ein Stück klassischer Dichtungstheorie: auf den Topos der ‚nüchternen Trunkenheit‘, der ‚sobria ebrietas‘. Der Dichter … dürfe nicht allein aus dem Gefühl der Begeisterung heraus schaffen, obwohl die Inspiration unerlässlich ist für sein Beginnen; vielmehr entstehe wahres Dichtertum erst aus der Verbindung von Begeisterung und Besonnenheit: von Trunkenheit und Nüchternheit. Es handelt sich um eine Analogie des alten Junktims von ‚physis‘ und ‚techne‘, von ‚ingenium‘ und ‚ars‘. Auch Hölderlins Verse lassen erkennen, dass die trunkene Begeisterung am Anfang steht und dann der Ausgleich in der Sphäre des Heilignüchternen folgt – ein Ausgleich, der erst vollkommene Poesie ermöglicht.

28) Verwandt ist das katholische Ritual der „Wasserweihe, nach dem vom Priester eine brennende Kerze ins Wasser gesenkt, tiefer gesenkt und zum dritten Male bis auf den Grund gestoßen wird“, wodurch „in heiliger Handlung eine Zeugung nachgebildet wird, durch welche der Mutterleib des Taufwassers befruchtet wird, um himmlische Nachkommenschaft zu gebären“ – A. Dieterich: Mutter Erde. 3. Auflage, 1925, S. 114

29) Mehr zum Adler als Sonnenvogel hier

30) Die archetypische Vorstellung von Gott als Feuer, die Nietzsche zu diesem Gedicht inspirierte, ist verwandt mit einer Bibelstelle: „Da erschien die Herrlichkeit des Herrn und verzehrte das Brandopfer und das Fett auf dem Altar. Da alles Volk das sah, frohlockten sie und fielen auf ihr Antlitz.“ (3. Moses 9,24)

   
 
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