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Zentraler Mythos der persisch-römischen Mithras-Religion ist das Stieropfer. In persischen Überlieferungen sprießen aus den Gliedern des geschlachteten Stiers Bäume und andere Pflanzen, und in einer bildlichen Darstellung verwandelt sich das Blut, das aus seiner Halsschlagader strömt, in Ähren (1). Leben entsteht aus Tod - das ist der Grundgedanke, der aus solchen religiösen Vorstellungen spricht (2). Verwandt sind griechische Mythen: Der schöne Jüngling Adonis wird von einem Eber getötet, aus seinem vergossenen Blut wächst das Adonisröschen (3). Die junge Daphne will nicht von Apoll vergewaltigt werden, deshalb endet ihre menschliche Existenz. Sie verwandelt sich in einen Lorbeerbaum. Der Übergang ihres Fleisches in Wurzeln, Stamm, Äste und Laub fasziniert die Künstler. Ovid hat ihn dichterisch gestaltet (4) und  Bildhauer und Maler inspiriert. Sterben als Übergang in das Pflanzenreich versinnbildlicht auch das biblische Abendmahl: Christi Fleisch und Blut wandelt sich in Brot und Wein. Aus solchen Mythen spricht der Kreislauf des Lebens, zu dem der Tod gehört. Dass Lebewesen sterben, ist Voraussetzung für die Entstehung neuen Lebens (5). Verwelkte Blätter reißt der Wind von den Zweigen, um Platz an der Sonne für neue zu schaffen. Nur so kann der Baum sich verjüngen und jedes Frühjahr seine Wiedergeburt erleben. Die alten Blätter vermodern und kehren als Dünger in den Kreislauf der ewig sich erneuernden Natur zurück. "Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen", weiß Homer (6), "Einige streuet der Wind auf die Erd' hin, andere wieder /  treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlings Wärme: / So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet." War der Mensch früher eins mit der Natur, auch im Wechsel von Leben und Tod, hat er schon bald seine ursprüngliche Naturverbundenheit, die aus diesen alten Versen spricht, überwunden, als er sich kraft Entwicklung von Bewusstsein und Verstand von der Natur entfremdete, sich über sie erhob und sie sich zum Objekt machte, das er beherrschte, ausbeutete und zerstörte. Damit entstand ein uraltes Schuldgefühl, das den Menschen verurteilt, seitdem er seine naturgegebenen Grenzen verletzt, Bäume fällt und die gerodete Erde mit dem Pflug verwundet, Brücken über Flüsse schlägt, um sich neues Territorium zu unterwerfen, aus gefällten Bäumen Kriegs- und Handelsschiffe baut, um Meere und Ozeane zu überqueren und ferne Länder zu unterwerfen und aus ihnen Luxusgüter heranzuschaffen, die er durch Unterwerfung und Korrumpierung der Natur und naturnah lebender Eingeborener gewinnt. Dieses Schuldgefühl versuchte der Mensch auf vielfältige Weise zu beschwichtigen. Zum Beispiel, indem er von einem Wald, den er rodete, einen Teil stehen ließ und als heiligen Hain  nicht anzutasten wagte (7). Aber die Schuld wurde als so drückend empfunden, dass sie in ältesten Zeiten nicht ohne Menschenopfer abgetragen werden konnte. So gehörte zum Baumkult, dass bei den Germanen in heiligen Hainen Menschen geschlachtet (8) oder Baumfrevler durch Ausdärmen einem von ihnen beschädigten Baum zur Wiedergutmachung als Opfer dargebracht wurden (8a). Ein Kind wurde in das Fundament einer Festung oder eines anderen Gebäudes eingemauert, um die Naturdämonen zu beschwichtigen, in deren Bereich der Mensch durch solche Bauten zerstörend eingreift (9). Überquerte er einen Fluss, versöhnte er sich den Flussgott, dessen Macht er missachtete, indem er ihm ein Menschenopfer darbrachte (9a). Auch der Bau einer Brücke war Verletzung einer naturgegebenen Grenze. Der Leiter des Brückenbaus hatte deshalb in ältester Zeit zugleich priesterliche Funktion, um die Natur mit Opfern günstig zu stimmen, weshalb lateinisch pontifex, ein altes Wort für Priester, ursprünglich "Brückenbauer" bedeutete.
Zur Emanzipation von der Natur, die dem Menschen möglich war und dieses archaische Schuldgefühl nach sich zog, gehört auch, dass er in wachsendem Maße aus dem Kreislauf der Natur heraustreten konnte, das heißt, kraft Bewusstsein und Verstand Überlebenstechniken entwickelte, die den Tieren nicht zu Gebote standen, und so dem Wechsel von Leben und Tod weniger ausgesetzt war, die Grenze, die der Tod als Teil der Natur jedem Lebewesen setzt, überschreiten konnte. Die Instanz in unserer Seele, die uns Schuldgefühle bereitet, weil wir uns über die Natur erheben, Wälder roden oder Flüsse und Meere überwinden, verurteilt uns auch, weil wir die Macht, die der Tod über alles Leben hat, schmälern. "Debemur morti nos nostraque" - mahnt diese Instanz bei Horaz (10): "Wir und unsere Werke werden dem Tod geschuldet". "Nostraque" heißt wörtlich "und das unsere", also unser Besitz, das, was wir uns durch Eingriff in die Natur angeeignet haben: Villen, Gartenanlagen, Straßen, Brücken - so dass die freiere Übersetzung "und unsere Werke" es durchaus trifft; Horaz nennt als Beispiele für solche Aneignungen Trockenlegung von Sümpfen (65f.), Regulierung von Flüssen (67f.) und Anlage von Häfen: "Neptun, vom Festland eingefasst, birgt Flotten vor Nordstürmen" (63f.) - ein Stück des mächtigen Gottes Neptun, Verkörperung der als übermenschlich-heilig verehrten und gefürchteten Elementarkraft Meer, hat der Mensch sich untertan gemacht.  Aus solchen Gedanken spricht Wissen um Schuld, die wir mit unserem Tod begleichen. Oder durch den Tod eines anderen Menschen, den wir opfern. Oder, wenn wir zivilisierter sind, durch das Opfer eines Tieres als Menschenersatz. Ein Mensch, der opfert - sich selbst, einen anderen Menschen oder ein Tier -, fühlt sich wieder im Einklang mit dem Kreislauf der Natur und nicht mehr als Frevler; das dürfte der Sinn des Stieropfers im Mithras-Kult sein. Dieses Schuldgefühl bringt Menschen dazu, todessüchtig in den Krieg zu ziehen, Seuchen wie die Pest als Geißel Gottes, als verdiente Strafe zu empfinden und mit masochistischem Strafbedürfnis den Tod willkommen zu heißen wie zum Beispiel die russische Dichterin Marina Zwetajewa:

Vorausgesetzt, was damals alle glaubten, was auch wir glauben, wenn wir Puschkin lesen, dass die Pest von Gott gewollt ist zu unserer Bestrafung und Unterwerfung, also tatsächlich eine Geißel Gottes. Wir stürzen uns unter die Geißel wie Laub unter den Sonnenstrahl, wie Laub unter den Regen. Nicht Freude an Belehrung, sondern Freude am Schlag. Reine Freude am Schlag als solchem.                                                                       (11)

Der Tod eines Organismus ist erst dann vollendet, wenn er sich aufgelöst hat. Seine Rückkehr in den Schoß der Natur durch Sterben und Verwesung ist zum Prozess von Zeugung und Wachstum gegenläufig und dessen naturnotwendige Ergänzung. Im Dienste dieses auflösenden, destruktiven Naturgeschehens fühlte sich der Mensch, wenn er Opfer darbrachte, was ein Bericht des mittelalterlichen Chronisten Adam von Bremen über die Tier- und Menschenopfer der alten Schweden erkennen lässt:

Das Opfer nun ist folgender Art. Von jeder Gattung männlicher Geschöpfe werden neun dargebracht, mit deren Blut es Brauch ist, die Götter zu beschwichtigen. Die Körper aber werden in dem Haine aufgehängt, der zunächst am Tempel liegt. Dieser Hain ist nämlich den Heiden so heilig, daß jeder einzelne Baum durch den Tod oder die Verwesung der Geopferten geheiligt erachtet wird. Dort hängen auch Hunde und Rosse neben den Menschen, und von solchen vermischt durcheinanderhängenden Körpern habe er, erzählte mir ein Christ, zweiundsiebzig gesehen.           (11a)

Der heilige Charakter der Bäume fließt aus Tod und Verwesung der ihnen dagebrachten Opfer (ex morte vel tabo immolatorum) - der Mensch, der andere Menschen oder Tiere Tod und Verwesung überantwortet, stellt die als heilig empfundene Ordnung der Natur ein Stück weit wieder her.
Im Dienste dieser auflösenden, destruktiven Tätigkeit der Natur fühlte sich der Mensch insbesondere, wenn er Mitmenschen oder Tiere zerstückelte. So gehörte zum Kult des altgriechischen Gottes Dionysos, dass die Mänaden Tiere und Menschen nicht nur töten, sondern auch zerreißen und die Körperteile in die Natur zerstreuen - eine sakrale Handlung, in der sie re-ligio, Wiedervereinigung mit der Natur, von der sich der Mensch entfremdete, erlangen, indem sie solidarisch der Natur bei der Auflösung von Organismen helfen: Die Bacchantin Agaue tötet und zerreißt ihren eigenen Sohn Pentheus, einen puritanischen Spießer, der den ekstatischen Kult des Wein- und Rauschgottes Dionysos verbieten will (12). Ovid setzt Agaue, die ihrem Sohn gerade den Kopf abreißt, mit dem Wind gleich, der welke Blätter von den Bäumen reißt, also mit einer Naturkraft, die mitwirkt, den Kreislauf des Lebens in Gang zu halten:

Der Unselige hat keine Arme mehr, um sie der Mutter entgegenzustrecken, doch zeigt er ihr die verstümmelten Wunden ohne die am Boden liegenden Glieder. "Sieh mich an, Mutter." Bei dem Anblick heulte Agaue auf, warf den Kopf in den Nacken und ließ das Haar im Winde flattern. Das abgerissene Haupt mit blutigen Fingern umklammernd, ruft sie: "Hurra, meine Gefährtinnen, dieses Werk habe ich siegreich vollbracht." Der Wind reißt das Laub, das, vom herbstlichen Frost angegriffen, kaum noch an den Zweigen haftet, nicht schneller vom hohen Baume herab, als die Glieder des Mannes von frevlerischen Händen zerrissen wurden. (12a)

Auch die christliche Eucharistie wurzelt im archaischen Menschenopfer; durch Zerteilung und gemeinsamen Verzehr handeln die Teilnehmer an dieser Opferhandlung im Einklang mit dem Kreislauf der Natur - der urwüchsig-barbarische Charakter des Rituals wurde zum Beispiel von dem katholizismuskritischen englischen Gelehrten Reginald Scot (c. 1538 - 1599) in seiner Discoverie of Witchcraft (XI,3) intuitiv erfasst:

The incivilitie and cruell sacrifices of popish preests do yet exceed both the Jew and the Gentile: for these take upon them to sacrifice Christ himselfe. And to make their tyrannie the more apparent, they are not contented to have killed him once, but dailie and hourelie torment him with new deaths; yea they are not ashamed to sweare, that with their carnall hands they teare his human substance, breaking it into small gobbets; and with their external teeth chew his flesh and bones ...

Dass ein blutiges Menschenopfer, welches dem Naturkreislauf von Leben und Tod Anerkennung und Tribut zollt, ebendiesen Kreislauf überwindet und die Menschen aus ihm erlöst, erscheint als Widerspruch. Doch wer wie der Autor dieser Webseite von Erkenntnissen Sigmund Freuds und C.G.Jungs geprägt ist, weiß: Das zu Überwindende muss ernst genommen werden. Aufgabe einer Religion ist es, dämonische Kräfte wie den Wunsch, durch Menschenopfer re-ligio mit der Natur wiederzuerlangen, zu bannen, wozu sie sich mit ihnen einlassen muss. Deshalb versenken sich Christen in der Kirche in den gekreuzigten Gottessohn; Atheisten wie Hitler (12aa), Stalin, Pol Pot dienten dem Tod.

Auch der Jäger Aktaion, der sich an der Natur versündigt, weil er in seiner Beutegier selbst abgelegenste, unberührte Winkel des Waldes heimsucht und entweiht, wird zur Strafe von dem Naturnumen Artemis in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Jagdhunden zerrissen (12b).
Als Menschenopfer mit ritueller Zerstückelung lässt sich auch die Tötung von Kriegsgefangenen durch Vandalen auf dem Rückweg von einem Raubzug denken; der oströmische Geschichtsschreiber Prokop berichtet:

Bei einem Streifzug gegen die Plätze in der Peloponnes hatte einmal Geiserich Tainaron erobern wollen, war dort aber rasch abgewiesen worden und musste sich unter großen Verlusten schmählich zurückziehen. So nahm er, noch in seinem Zorn, Kurs auf Zakynthos, ließ viele Einwohner, die ihm vor die Klinge kamen, niedermachen, und etwa fünfhundert angesehene Männer mussten, als er kurz darauf abfuhr, in die Sklaverei wandern. Mitten auf dem sog. Adriatischen Meere wurden dann auf seinen Befehl die Fünfhundert in Stücke gehauen und diese rücksichtslos allenthalben ins Wasser geworfen.               (12c)

Prokops Deutung legt nahe, den Mord als Akt der Wut über Misserfolge zu deuten. Dem widerspricht, dass die Vandalen die Männer am Leben gelassen und auf die Schiffe gebracht hatten, um sie als Sklaven entweder für sich arbeiten zu lassen oder zu verkaufen (auch der Rückkauf der "angesehenen" Männer durch Angehörige wäre lukrativ gewesen) - wieso sollten sie ihre Beute zerstören und über Bord werfen? Als Erklärung drängt sich auf: Diese Barbaren, die aus den Urwäldern Germaniens stammten, waren trotz Berührung mit der mittelmeerischen Zivilisation über mehrere Generationen seelisch noch so urwüchsig geblieben, dass sie Seefahrt als naturwidrige Grenzverletzung empfanden, die heftigste Schuldgefühle und Furcht auslöste. Mit den zerstückelten Menschen sollte das Meer versöhnt werden.

Verkörperung des modernen Menschen, der sich in seiner Hybris an dem Kreislauf der Natur versündigt, ist Dr. Frankenstein, Hauptfigur in Mary Shelleys Roman Frankenstein oder der moderne Prometheus. Verfilmungen, die Klassiker wurden, haben  ihn zu einem populären Mythos gemacht. Frankenstein greift in den Kreislauf der Natur ein, indem er sich aneignet, was bereits dem Tod anheimgefallen ist, Leichen vom Galgen oder aus der Friedhofserde, und es durch seine Technik ins Leben zurückzwingt. Die Kreatur, die er schuf, ist natur- und gotteswidrig, deshalb ist sie selbst unglücklich und bringt den Menschen keinen Segen; in einer der klassischen Verfilmungen soll sie in einer Windmühle den Tod finden, was symbolisch ist: In einer Mühle wird zermahlen (13), also zerkleinert, aufgelöst, was im natürlichen Kreislauf mit Lebewesen geschieht, die in das Reich des Todes zurückkehren. Dr. Frankensteins Frevel soll rückgängig gemacht werden. Durch Zerstückelung des Todgeweihten nimmt der Mensch am Wirken der Natur teil und erklärt sich solidarisch mit ihr.

Um einen frevelnden Eingriff in den Kreislauf der Natur geht es auch in Sophokles' Drama Antigone. Kreon, Herrscher von Theben, hat seinem Feind Polyneikes eine militärische Niederlage bereitet, in der dieser getötet wurde. Kreons Rachsucht, die eigentlich dadurch gestillt sein müsste, ist jedoch so unersättlich, dass er Polyneikes noch über den Tod hinaus verfolgt, indem er verbietet, ihn zu bestatten, also Mutter Erde, dem Reich des Todes, zurückzugeben. Maßlosigkeit hält im Oberreich des Lebens zurück, was dem Hades gehört. Einem Toten die Bestattung zu verweigern, gehörte im alten Griechenland zu den größten Freveln und löst in Sophokles' Antigone eine Störung in der Harmonie der Natur aus. Thebens Bürger, verstört von der Hybris ihres Herrschers, erheben in der Gestalt des Chors mahnend ihre Stimme, indem sie an weitere frevelnde Eingriffe des Menschen in den Kreislauf von Leben und Tod erinnern: Unter anderem an Akrisios, der seine Tochter Danae hinderte, zu heiraten und Kinder zu bekommen, indem er sie in einem gruftartigen Verließ einsperrte (944ff.). Ein Orakel hatte ihm den Tod durch seinen Enkel geweissagt. Zeus jedoch sendet sein Sperma als Goldregen hinab zu Danae und befruchtet sie. Sie gebärt Perseus, der Akrisios tötet. Zu den Gesetzen der Natur gehört, dass die Alten den Jungen Platz machen, damit das Leben weitergeht (14). Auch in dem Chorlied Vieles ist ungeheuer, nichts ist ungeheuerer als der Mensch (332ff.) nehmen Thebens Bürger Stellung zu Kreons Frevel als menschliche Hybris gegen die Gesetze der Natur überhaupt. Kraft Bewusstsein und Verstand - so die berühmte Klage - erhebt sich der Mensch über die Natur, macht sie sich untertan und beutet sie aus. So vergeht er sich an Mutter Erde, indem er sie mit seinem Pflug aufreißt, kein Tier ist vor ihm sicher, und natürliche Grenzen lässt er sich nicht setzen: weder von schwer zugänglichen Gebirgen, in die er zur Jagd hinaufdringt, noch von stürmischen Meeren, die er mit seinen Schiffen überquert, selbst die Grenze, die ihm der Tod als Teil der Natur setzt, überschreitet er zum Beispiel durch seine Heilkunst (die damals im Vergleich zu heute freilich bescheiden war) oder indem er sich Häuser baut, so dass Regen und Frost ihn weniger angreifen und krank machen.

Um Sterben und Zerstückelung geht es auch in Leo Tolstojs Erzählung Drei Tode / Три смерти. Verglichen werden Sterben und Tod einer schwindsüchtigen reichen Dame, des alten moribunden Bauern Chwjodor (Fjodor) und eines Baumes.
Die Dame gehört als Adelige zur russischen Führungsschicht, die seit Peter dem Großen verwestlicht und der traditionellen, von Demut statt von Machbarkeitswahn geprägten russischen Lebensweise entfremdet ist. Ihr Sterben ist unwürdig, weil sie ihren Tod nicht akzeptiert, sondern krampfhaft verleugnet und alles Mögliche versucht, um ihm zu entfliehen.
Im Gegensatz zu ihr ist Fjodor ein einfacher Mensch aus dem Volk, der im Einklang mit der Natur gelebt hat und stirbt. Tolstoj erklärt dazu in einem Brief vom 1. Mai 1858:

Mein Gedanke war: drei Wesen sterben - eine adelige Dame, ein Bauer, ein Baum. Die Dame ist erbärmlich und widerwärtig, weil sie ihr Lebtag gelogen hat und auch vor dem Tod noch lügt. Das Christentum, wie sie es auffasst, kann die Fragen von Leben und Tod für sie nicht lösen. Wozu sterben, wenn man doch leben möchte?  ...  Der Bauer stirbt ruhig, weil er kein Christ ist. Er hat eine andere Religion, obwohl er die christlichen Gebräuche gewohnheitsmäßig erfüllte. Seine Religion ist die Natur, mit der er lebte. Er hat mit eigener Hand Bäume gefällt, Roggen gesät und geschnitten, Hammel geschlachtet; ihm wurden Hammel geboren und Kinder geboren, er hat die Alten sterben sehen; er kennt dieses Gesetz, dem er sich nie entzogen hat wie diese Dame, und blickt ihm gerade ins Auge  ...

In Fjodors Todesnacht hat die Köchin Nastasja, die ein enges Verhältnis zu ihm hat und mit ihm unter einem Dach lebt, einen merkwürdigen Traum:

"Seltsam, was ich heute Nacht geträumt habe", sagte die Köchin am anderen Morgen, während sie sich - noch im Dämmerlicht - reckte und streckte. "Ich träumte, dass Onkel Chwodor vom Ofen kroch und Holz hacken ging. 'Komm, Nastasja', sagte er zu mir, 'ich helfe dir ein wenig.' Ich sagte zu ihm: 'Wie kannst du denn noch Holz hacken', aber er packt das Beil und beginnt zu hacken - und so geschwind, so geschwind, dass die Späne nur so fliegen. 'Ja, was ist denn das?' sage ich, 'du warst doch krank?' - 'Nein', sagt er, 'ich bin gesund', und holt dabei so aus, dass ich es mit der Angst zu tun bekomme. Wie ich aufschreie, erwache ich. Er wird doch nicht gestorben sein, he? Onkel Chwodor! he, Onkel!"
Fjodor gab keine Antwort.
"Er wird doch nicht gestorben sein? Geh, schau einmal nach", sagte einer der erwachenden Kutscher. Die vom Ofen herabhängende magere Hand mit den rötlichen Haaren war kalt und bleich.
(Übersetzung: Josef Hahn)

Es handelt sich um ein telepathisches oder synchronistisches Phämomen, wie es Schopenhauer (15), C.G.Jung (16) und viele andere (16a) beschrieben haben. Stirbt jemand, so empfängt ein Mensch, der gerade von ihm räumlich getrennt ist, aber ihm durch Verwandtschaft oder Freundschaft nahesteht, die Nachricht von seinem Tod als Ahnung oder Traum, denn Menschen können geistig-seelisch in einer höheren Dimension außerhalb des Raumes verbunden sein. "Sender" und "Empfänger" solcher telepathischer Botschaften aber ist nicht das Bewusstsein, sondern das Unbewusste, das sich nicht in logischen Gedanken, sondern durch innere Unruhe oder Träume äußert, so dass die Botschaft oft als Traum ankommt. In der Nacht, in der Fjodor stirbt, träumt Nastasja davon, dass dieser Fjodor Holz hackt. Es ist ein Akt der Zerstückelung, und diese Zerstückelung erleidet Fjodor nicht (nur), sondern ist ihr Subjekt, der Holzhacker. Er selbst schwingt das Beil, verrichtet aus freien Stücken die Arbeit des Todes, der den Organismus auflöst, und diese Auflösung fürchtet der Sterbende nicht (nur), sondern bejaht sie (auch) als Erlösung, denn er sagt: "Ich bin gesund". Also wirkt in seiner (und jeder menschlichen) Seele etwas, das Tod und Auflösung will, von Sigmund Freud Todestrieb genannt wird (17) und auch für C.G.Jung zu unserer kreatürlichen Menschennatur dazugehört:

Es ist nicht nur so, dass die Libido ein unaufhaltsames Vorwärtsstreben, ein endloses Leben- und Aufbauenwollen wäre, als welches Schopenhauer seinen Weltwillen formuliert hat, wobei der Tod eine von außen herantretende Tücke oder Fatalität ist; sondern die Libido will, dem Sonnengleichnis entsprechend, auch ihren Untergang, ihre Involution. In der ersten Lebenshälfte will sie Wachstum, in der zweiten deutete sie erst leise, dann vernehmlich die Änderung ihres Zieles an.                                                                          (17a)

Der dritte Tod in Tolstojs Erzählung ist der einer Esche, die gefällt wird, um aus ihr ein Holzkreuz für Fjodors Grab zu schnitzen. Die Lücke, die ihr Tod in den Wald reißt, wächst wieder zu:

Das Geräusch der Axt und der Schritte verstummte. Das Rotkehlchen zwitscherte und flatterte höher. Das Zweiglein, das es mit seinen Flügeln berührt hatte, schwankte noch eine Zeitlang und blieb dann mit seinen Blättern wie alle anderen unbeweglich stehen. Die Bäume streckten ihre reglosen Zweige noch freudiger in den neugewonnenen Raum.
Die ersten Strahlen der Sonne drangen aus einer vorüberziehenden Wolke, leuchteten am Himmel auf und liefen über Erde und Himmel.  ...  Die Vögel lärmten in den Zweigen und zwitscherten weltvergessen etwas Glückliches, die saftigen Blätter flüsterten fröhlich und ruhig in den Wipfeln, und die Zweige der lebenden Bäume rauschten langsam und majestätisch über dem toten, gefällten Baum.
(Übersetzung: Josef Hahn)

Der Tod eines Baumes schafft Platz an der Sonne für neue Zweige mit frischem Grün, das muntere Lärmen der Vögel bedeutet Leben, nicht Stillstand und Trauer, der Tod eines Organismus ermöglicht, dass das Leben weitergeht - die Stelle erinnert an ein Gedicht des russischen Lyrikers Fjodor Tjuttschew, Beruhigung / Успокоение, in dem ein Gewitter im Kreislauf der Natur nicht nur den Tod bringt, sondern auch das Leben fördert, indem es zerstörend und zugleich erfrischend und verjüngend wirkt:

Die Donner sind verstummt - noch rauchend liegt,
Gefällt vom Blitz des Zeus, die hohe Eiche.
Durch sturmerfrischtes Grün im Winde fliegt
Blaugrauer Rauch aus dem Geäst der Leiche.
Und voller, heller durch die Wälder klingt
Verjüngter Gruß - schon lang die Vögel schlagen.
Ein Regenbogen, der sich siegreich schwingt,
Lässt sich von grünen Wipfeln tragen.

Das archaische Gefühl von Entfremdung und Schuld, das uns Menschen unsere Emanzipation von der Natur eingetragen hat und das bis heute aus den tiefsten Schichten unserer Seele heraus wirkt, beschwichtigten unsere Vorfahren auf der Entwicklungsstufe der Barbarei durch Menschenopfer. Als sie kultivierter wurden, ersetzten sie die alten Menschenopfer durch Tieropfer (wovon die biblische Erzählung von Abraham und Isaak zeugt). Heute sind wir so zivilisiert, dass uns auch das Opfern von Tieren zu grausam und zu blutig ist (der Islam allerdings ist dabei geblieben) und begleichen unsere Schuld mit einer Überweisung an Greenpeace - doch es gibt Rückfälle. Ein Zeuge des Terrors der Roten Khmer berichtet:

"Sehen Sie nicht, daß diese Kokospalmen größer sind, als es eigentlich ihrem Alter entspricht?" fragt mich mit einem verängstigten Blick in den Augen der Dolmetscher Rim Rom: "Sie haben einen besonderen Dünger erhalten." Unter Pol Pot war es verboten, Leichen einzuäschern. "Holz ist dazu da, um Feuer zum Kochen zu machen, und sollte nicht verschwendet werden", pflegten die Roten Khmer zu sagen. So begruben sie ihre Opfer zusammen mit Samen der Kokospalmen.
"Ich betrachte die Kokospalmen und habe noch im Ohr, wie die Tschhlop (die jungen Garden der Roten Khmer) mir zuflüsterten: ''Gute Kokosnuß, gute Kokosnuß, töten, um einen guten Kokosnußbaum zu bekommen ...''", sagt Rim Rom, der zwei Jahre auf einer Kommune in Svay Rieng arbeitete.
Ständig wurde er daran erinnert, daß er immer noch einen guten Dünger abgeben würde, wenn er als Arbeitskraft nicht mehr tauge.                                            (DER SPIEGEL 16/1980)

Die Roten Khmer sind zum Ursprünglichen, zum Barbarischen zurückgekehrt: zum Baumkult in Gestalt von Menschenopfern. Als sie 1975 Phnom Penh eroberten, verschickten sie sämtliche Einwohner aufs Land, die Kapitale wurde zur Geisterstadt. Sie taten das aus Hass gegen urbane Zivilisation und Verwestlichung. Den Stadtbewohnern warfen sie vor, korrumpiert und dekadent zu sein. Und rächten diese Emanzipation von dem bäuerlich-natürlichen Dasein des alten Kambodscha durch grausame Massenmorde, die im Grunde sakrale Handlungen waren: Menschenopfer zur Versöhnung der beleidigten Mutter Natur. So erklärt sich auch, warum die Roten Khmer Krankenhäuser schlossen und Ärzte und Krankenschwestern umbrachten. In ihren Augen ging vom Gesundheitswesen eine korrumpierende Wirkung aus (18). Und warum? Weil die Natur künstliche Verlängerung kranken oder alterschwachen Lebens als gegen ihre Absichten gerichtet ablehnt. Deshalb ließ Pol Pot nur Naturheilkunde zu: 

In einem Land, das zu Sihanouks Zeiten in jeder Provinzhauptstadt ein vollausgestattetes Krankenhaus hatte, in jedem Distrikt eine Sanitätsstelle, vernichtete Pol Pot systematisch jede Spur der westlichen Medizin.
Und da er sich ausschließlich auf traditionelle Praktiken verließ, verwandelte er sogenannte Waldkrankenhäuser in Warteräume des Todes: Die Lebensmittelration der Patienten wurde halbiert, junge Bauernkinder führten Operationen aus.
"Eines Tages sah ich, wie die Khmer Rouge ein siebzehnjähriges Mädchen in das Krankenhaus brachten. Sie war gesund und meinte, sie solle dort als Krankenschwester arbeiten. Statt dessen sah ich, wie man ihr ein Schlafmittel verabreichte, sie an den Operationstisch band und wie sie von zwei jungen Ärzten in Stücke geschnitten wurde.
"Die Stücke wurden später im Garten vergraben", erinnert sich Dr. Hun Tchhen Ly, der jetzt an dem Krankenhaus in Battambang arbeitet (fünf Brüder, seine Frau und zwei Kinder wurden getötet). Er sagt auch noch: "Pol Pot war schlimmer als Hitler, denn er tat das mit seinem eigenen Volk."
Diesem Pol Pot gelang es wenigstens, mit einer Krankheit fertig zu werden, der Lepra. Er ließ alle Leprakranken ausrotten.                                                 (DER SPIEGEL 16/1980)

Durch welche Motive lässt sich die Ermordung des jungen Mädchens erklären? Offenbar ein Menschenopfer mit ritueller Zerstückelung, als Dünger der Mutter Natur dargebracht. Ein kambodschanisches Mädchen, das von den Roten Khmer terrorisiert wurde, hatte folgende Vision (oder Traum):

Ich starre die Wolken an und stelle mir Papas Gesicht vor, das auf mich heruntersieht. "Wo sind die Engel, Papa?", frage ich ihn. Plötzlich ballen sich die Wolken zu festen Kugeln zusammen, die sich in Totenköpfe verwandeln. Bedrohlich schweben sie dort über mir, diese Wolkenschädel, und starren mich aus ihren unsichtbaren Augen wütend an. Mein Atem geht schneller, meine Brust wird eng, ich zwinge mich, wegzusehen. Doch als mein Blick auf meinen Arm fällt, wächst Gras aus meinem Fleisch. Wie die Härchen auf meinen Armen kommt das Gras aus meiner Haut. Es wächst immer höher. Dann schwindet mein Fleisch und meine Haut sackt zu Boden. Sie verwest im Zeitlupentempo, bis nichts mehr von ihr bleibt. Sie ist zu Erde geworden, zum Mutterboden der Roten Khmer.                    (19)

Loung Ung hatte dieses Gesicht im Januar 1979, als die Vietnamesen in Kambodscha einmarschierten und die Herrschaft der Roten Khmer zusammenbrach. Diese hatten ihre Eltern ermordet, sie zwangsrekrutiert und zum Kindersoldaten gedrillt. Beim Angriff der Vietnamesen wurde sie versprengt, fand zwei ihrer überlebenden Geschwister wieder und dachte natürlich nicht daran, sich wieder von ihnen zu trennen, um Anschluss an die Roten Khmer zu suchen und die Befreier zu bekämpfen. Sie war in relativer Sicherheit, als sie diese Vision hatte, aber die Angst, schon bei der geringsten Auffälligkeit von den Roten Khmer getötet und vorher vielleicht noch gefoltert zu werden wie so viele andere, diese jahrelange Angst steckte ihr natürlich immer noch in den Knochen, war sie doch in den Augen der Roten Khmer eine Deserteurin und Verräterin, die den Tod verdient hat. Daher die Fantasie, ins Pflanzenreich einzugehen, wir kennen es aus unserer europäischen Mythologie, die bedrängte Daphne zum Beispiel verwandelt sich in einen Lorbeerbaum. Auch den Wunsch des terrorisierten Kindes, zu Erde zu werden, also mit der Mutter Erde eins zu werden, in ihrem Schoß Geborgenheit zu finden, verstehen wir. Doch in Loung Ungs Fantasie mischt sich etwas Befremdliches: Sie wird nicht nur wieder eins mit der Erde, sondern mit dem Mutterboden der Roten Khmer, Dünger für die Felder ihrer  Feinde, die sie doch so hasst. Dafür gibt es eine psychoanalytische Erklärung: Identifikation mit dem Aggressor, laut Anna Freud ein Abwehrmechanismus. Indem sie von sich aus wird, was die Roten Khmer aus einem Staatsfeind wie ihr machen, Dünger, hofft sie, deren Hass von sich abzuwenden. Es ist Unterwerfung und Übernahme des Unwerturteils: Eine wie du hat nur noch verdient, Dünger zu werden. Der Aggressor, der sie - wenn auch nur für einen Moment und nur in ihrer Fantasie - zur Unterwerfung unter seine vernichtenden Absichten und unter sein Verdammungsurteil zwingen konnte, hatte dabei einen Verbündeten in ihrer Seele: die Instanz, die den Willen der Natur einfordert (19a).

Diese Instanz, aus der Schuldgefühl, Strafbedürfnis, Selbstaufgabe und Todesbereitschaft fließen können, ließ die Menschen des Mittelalters (aber auch späterer Epochen - wir zitierten oben Zwetajewa) todbringende Seuchen als Gottesgeißel empfinden. Aber auch Menschen werden solche Ehrentitel zuteil, zum Beispiel Attila und seinen Hunnen, die den Römern der dekadenten Spätzeit , die von ihnen verheerend heingesucht wurden, als flagellum Dei "Geißel Gottes" oder virga furoris Dei "Zuchtrute göttlichen Zorns" (20) galten - dieses archaische Schuldgefühl und Strafbedürfnis fordert ja nicht nur jemanden, der geopfert wird, sondern auch jemanden, der opfert: So finden sich, wenn wieder ein ganzes Volk vom Drang nach re-ligio mit der Natur ergriffen wird, natürlich auch viele, die dann lieber die Rolle der Geißel übernehmen und als Vollstrecker göttlichen Zorns auftreten, zum Beispiel die Vandalen, die von Afrika aus Italien und Illyrien plündernd und mordend heimsuchten; von ihrem König Geiserich überliefert der römische Geschichtsschreiber Prokop (21):

Und einmal, als er im Hafen von Karthago sein Schiff bestiegen hatte und die Segel schon gespannt wurden, soll ihn der Steuermann gefragt haben, gegen wen es denn diesmal gehe. "Natürlich gegen diejenigen, denen die Gottheit zürnt!" war seine Antwort.

Dass Zeus den Trojanischen Krieg ausgelöst hat, um "Tod zu säen, dadurch der Erde Erleicherung zu verschaffen vom Frevelmut der allzu großen Menschenmassen" (22), war eine im alten Griechenland verbreitete Überzeugung, aus der sich auch jene unheimliche Homer-Stelle erklärt, als den Griechen, die sich in Aulis versammelt haben, um Troja anzugreifen, ein Orakel den Sieg verheißt:

Gestern war's, wie mir daucht, da sich unsere Schiffe bei Aulis
Sammelten, Böses zu bringen dem Priamos selbst und den Troern.
Ringsher opferten wir um den Quell den unsterblichen Göttern
Auf geweihten Altären vollkommene Festhekatomben,
Unter des Ahorns Grün, dem blinkendes Wasser entsprudelt.
Sieh, und ein Zeichen geschah. Eine Schlange mit blutrotem Rücken,
Grässlich zu schaun, den selber ans Licht der Olympier sandte,
Unten entschlüpft dem Altar, fuhr schlängelnd empor an dem Ahorn.
Dort nun ruhten im Neste des Sperlings nackende Kindlein,
Oben auf schwankendem Ast, und schmiegten sich unter den Blättern,
Acht; und die neunte war der Vögelchen brütende Mutter.
Jene nunmehr verschlang die kläglich Zwitschernden alle;
Nur die Mutter umflog mit jammernder Klage die Kindlein,
Bis sie das Haupt hindreht', und am Flügel die Schreiende haschte.
Aber nachdem sie die Jungen verzehrt und das Weibchen des Sperlings,
Stellte zum Wunderzeichen der Gott sie, der sie gesendet:
Denn zum Stein erschuf sie der Sohn des verborgenen Kronos.
Wir nun standen umher, und stauneten ob er Erscheinung.
Wie doch solch Graun eindrang in der himmlischen Opfer.
Schleunig vor allem Volk weissagete Kalchas der Seher:
Warum steht ihr verstummt, ihr hauptumlockten Achaier?
Uns erschuf dies Wunder der Macht Zeus' waltende Vorsicht,
Spät von Dauer, und spät erfüllt, zu ewigem Nachruhm!
Gleichwie jene die Jungen verzehrt und das Weibchen des Sperlings,
Acht; und die neunte war der Vögelchen brütende Mutter:
Also werden wir dort neun Jahr auch kriegen um Troja,
Doch im zehnten die Stadt voll prächtiger Gassen erobern.
So weissagete jener; und nun wird alles vollendet. (23)

Die Schlange ist ein Geschöpf der von den Menschen misshandelten Mutter Erde (Mutter Natur) (24), aus deren Schoß sie im Einvernehmen mit dem Olympier Zeus hervorkriecht, um den Trojanern Verderben zu bringen. Dieses Ungeheuer sind die griechischen Krieger, die sich zur Eroberung Trojas versammelt haben, als Exekutoren göttlichen Vernichtungswillens.  

Noch einmal: Da sich der Tod eines Organismus erst dann vollendet hat, wenn er zerfallen ist, fühlt sich der Mensch besonders intensiv als Diener der Natur und in Harmonie mit ihr, wenn er an diesem destruktiven Prozess der Auflösung mitwirkt, indem er Mitmenschen oder Tiere zerstückelt. Dadurch erklärt sich eine barbarische Hinrichtungsart, die Herodot überliefert, als er vom Zug des persischen Großkönigs Xerxes gegen Griechenland berichtet. Dessen lydischer Untertan Pythios hatte fünf Söhne, die alle zur Gefolgschaft verpflichtet waren. Als sie eingezogen werden sollten, brachte Pythios eine Bitte vor:

"Hab Erbarmen, König, mit mir altem Mann und befreie einen meiner Söhne vom Kriegsdienst: den ältesten, damit er für mich und meinen Besitz sorge. Die anderen magst du mitnehmen. Mögest du wieder heimkehren, nachdem du dein Ziel erreicht hast!"

Doch die Bitte machte Xerxes zornig, und er antwortete:

"Da du aber unverschämt geworden bist, sollst du Strafe erhalten, zwar nicht, die du verdient hast, sondern weniger, als du verdient hast. Denn dich und deine vier Söhne rettet die Gastfreundschaft. Doch mit dem Leben des einen, an dem du am meisten hängst, sollst du büßen." Nach diesem Bescheid gab er den Henkern den sofort den Auftrag, aus den Söhnen des Pythios den ältesten zu suchen, ihn mitten durchzuhauen und die beiden Hälften rechts und links an die Straße zu legen; dazwischen sollte das ganze Heer hindurchziehen. (25)

Welchen Sinn hat dieses Ritual? Xerxes lässt seine Soldaten durch die beiden Hälften desjenigen Menschen, der Krieg und Todesgefahr entzogen werden sollte, hindurchziehen, damit sie dessen Zerstückelung bekräftigen und dadurch an ihre Bestimmung gemahnt werden, die in Vernichtung und Tod im Einklang mit dem Willen ihres Kriegsherrn und der Natur besteht.
Die Natur, zu der auch der Tod gehört, als göttlich zu verehren und ihr dienend re-ligio zu empfinden, ist barbarische Religiosität, die tief im Innern auch des zivilisierten Menschen weiterschlummert und die Nationalsozialisten dazu inspiriert hat, Teile der SS Totenkopfverbände (oder Totenkopf-SS) zu nennen und Totenköpfe als Abzeichen auf Mütze oder Kragenspiegel tragen zu lassen (26): Sie arbeiten dem Tod zu - das will diese Symbolik sagen - und fühlen sich dabei im Einklang mit der Natur wie später die Roten Khmer und vor ihnen die schon erwähnten Mänaden, die C.G. Jung 1936 hellsichtig als "weibliche SA" bezeichnete (27). Diese Sehnsucht, den Standpunkt des Todes einzunehmen und seine Werke auszuführen, um die ursprüngliche re-ligio mit der Natur wiederzuerlangen und das archaische Gewissen zu beruhigen, lässt sich Todestrieb oder konstitutiver Bestandteil des Todestriebes nennen und kann sich gegen das eigene Leben oder das von Mitmenschen richten und erklärt zum Teil das Grauen, das früher Henker oder heute Menschen wie Roger Kusch mit ihrer Tätigkeit einflößen, so dass sie wie Unpersonen behandelt werden - es ist Angst vor Regungen, die auch aus der eigenen Seele aufsteigen wollen (28), ein Abwehrmechanismus, also ehrenwerte Angst im Grunde, die aber nicht dazu führen darf, sterbewillige Schwerkranke zu entmündigen, denn der Tod bringt auch Erlösung - was zur Schöpfung und zur menschlichen Natur gehört, kann nicht nur böse sein.
Verfall und Tod als Teil der (menschlichen) Natur konnte auch unsere westliche Zivilisation nicht abschaffen, obwohl sie es auszubürgern versucht, indem wir zum Beispiel Sieche in Pflegeheime oder Krankenhäuser abschieben, um sie uns aus den Augen zu schaffen. Auch den Todestrieb haben wir nicht vollständig aus unserer Welt verdrängen können. "Viva la muerte!" war die Losung eines spanischen faschistischen Generals. "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod!" hält uns Al-Qaida entgegen, flößt uns mit Selbstmordattentaten Angst und Schrecken ein und lernt aus unserer Verzagtheit, dass Todesbereitschaft überlegen macht. Die Psychoanalyse prägte für "Gewissen" das Synonym "Über-Ich", wodurch sie eine Hierarchie postulierte: Das Gewissen als Instanz der Sittlichkeit stehe über dem egoistischen Ich und natürlich auch über dem Unter-Bewusstsein, dem Reservoir der von der oberen erhabenen Instanz unter Kontrolle zu haltenden niederen, bestialischen Triebregungen. Das stimmt nur zum Teil. Das gute Gewissen eines SS-Mannes, der diszipliniert den Kreislauf von Leben und Tod in Gang hält, verdient eher den Namen "Unter-Ich" - die Stimme des Gewissens ist nicht per se menschlich und erhaben.

Aber volkstümlich. Fans des Rheinischen Frohsinns werden es mir verübeln, wenn ich die kölnische Karnevalssitte der Nubbel-Verbrennung auf ein ursprüngliches Menschenopfer zurückführe. In Gestalt des Nubbels - wird man mir entgegnen - würde man doch nur symbolisch die Sünden der tollen Tage vernichten, um gereinigt die Fastenzeit zu beginnen. Oder: Zur Karnevalszeit liegt ja oft schon Frühling in der Luft und der Nubbel personifiziert den Winter, der endlich weichen soll, damit die warme Jahreszeit kommen und das Leben wiedererwachen kann - im Einklang mit der Natur helfen die Jecken bei der Austreibung des Winters. Für letztere Erklärung sprechen verwandte Bräuche in anderen Regionen - Hermann Usener hat sie zusammengestellt (29):

Bei den Slaven hat die alte Anschauung vom siegreichen Kampf des Sommergottes gegen den Winterriesen einen eigenthümlichen Ausdruck in der Sitte gefunden, dass zu Mittfasten ..., seltener am Palmsonntag der Tod in Gestalt eines (alten) Weibes ausgetragen und ins Wasser geworfen wird. Dies weibliche Wesen heißt in Mähren Mařena, in Polen und Schlesien Marzana, in Böhmen Smrt, bei den Wenden Smerc, anderwärts Muriena und Mamurienda, alles Ausdrücke, welche theils sicher, theils wahrscheinlich Tod, Todesgöttin bedeuten. Tod vertritt die Stelle des Winters, wenn in czechischen Liedern dem ausgetragnen Tod der neue Sommer (nové léto) entgegengesetzt wird ...
Statt ersäuft zu werden, wird die Strohpuppe auch vor dem Dorf verbrannt in einigen Gegenden Böhmens, zu Spachendorf in östr. Schlesien, bei Warmbrunn am Riesengebirg; um Weidenau in östreichisch Schlesien pflegt dabei die Puppe männliches Geschlecht darzustellen und 'Todtenmann' oder 'der alte Jude' benannt zu werden ... Bei Böhmisch-Aicha und Kolin pflegt man den Tod dreimal an eine Eiche zu schlagen um ihn zu zertrümmern. In östreichisch Schlesien soll ziemlich allgemein der männliche Popanz von vier Burschen mittelst Stricken vor den Ort geschleift werden, 'während die andern mit den Stöcken und Riemen auf ihn losschlagen'; jenseits der Dorfgrenze wird er dann niedergelegt, zerschlagen und die Reste auf den Feldern zerstreut. Bei Tabor wählt man sich einen Felsen, um die Smrt ins Wasser herabzuwerfen; bei Neustadt an der Mettau stürzt man sie auch wohl von einem Felsen herab auf die Erde, zertrümmert dann die Puppe und wirft die Bruchstücke ins Wasser. Auch das einfache Begraben begegnet vielfach in Böhmen. ...
Nur eine weitere Variante der Form ist es, wenn von den Nordslaven mancher Orten Mořena zersägt wird; man nennt das 'die alte sägen' (bábu řezati). ... A. Linhart bezeugt: 'auch in Krain haben wir noch eine dunkle Erinnerung von diesem Gebrauche. In der Mittfaste, im Frühlinge, geht eine lächerliche Sage unter dem Volke, zumal unter den Kindern, dass ein altes Weib zum Dorfe hinausgeführt und in der Mitte entzwei gesägt werde. ... In Barcelona laufen an eben jenem Sonntag der Mittfasten (Laetare) die Knaben in Schwärmen von 30 bis 40 durch die Strassen, theils mit Sägen, theils mit Scheitern, theils (zum Einsammeln von Geschenken) mit Tüchern versehen; sie singen dazu, sie suchten die älteste Frau der Stadt, um sie zu Ehren der Mittfasten durch den Leib entzwei zu sägen, und schließlich thun sie so, als hätten sie die Alte gefunden, dann zersägen und verbrennen sie etwas. Deutlicher hatte sich die Sitte bis in unser Jahrhundert in Italien erhalten. Theils zu Mittfasten selbst theils an jenem mehrgenannten Sonntag richtete man eine scheussliche grosse Puppe her; das niedere Volk oder die Kinderwelt schleppte sie vor den Ort und sägte sie mitten durch. Das gieng unter all jenem Höllenlärm von Kuhschellen, Töpfen, Tiegeln u. s. w. vor sich, den man bei Acten der Volksjustiz ... scampanata zu nennen pflegt. Der verbreitetste und früher allgemeiner verständliche Ausdruck für diesen Auftritt ist segare la vecchia.

Usener deutet den Brauch als Austreibung des durch eine Puppe oder einen alten Menschen verkörperten Winters, des abgelebten Jahres, das dem Frühling zu weichen hat, und seine Interpretation erscheint uns nicht abwegig: Die Menschen bekunden so ihre Solidarität mit den Naturereignissen, dem Kreislauf der Jahreszeiten. Doch  solche Rituale, die oft mit der dionysischen Ausgelassenheit eines Dorffestes vollzogen werden, lassen sich darüber hinaus, besonders wenn eine Puppe in Menschengestalt oder ein lebender alter Mensch zumindest symbolisch zerstückelt und in die Natur zerstreut wird, auf ein ursprüngliches Menschenopfer zurückführen, dessen Sinn war: Die Alten müssen sterben und in den Kreislauf der Natur zurückkehren, um den Jungen Platz zu machen.

Um Zerstückelung als Reaktion auf ein Verhalten, das den Lauf der Natur aufhalten will, dreht sich auch ein Shakespeare-Drama: Der Kaufmann von Venedig. Der jüdische Wucherer Shylock ist solch ein Alter, der seine Tochter Jessica an sich ketten will und sie bei sich zu Hause einsperrt, so dass sie keine Familie gründen kann. Sein Egoismus will Enkelkinder verhindern wie Akrisios in der griechischen Sage, der seine Tochter Danae in einem unterirdischen Verließ gefangenhält, damit sie nicht heiratet, Kinder kriegt und ihn zum Opa macht. Doch Zeus schickt sein Sperma als Goldregen zu ihr hinab und schwängert sie. Ihr Kind tötet Akrisios, der sich wie Shylock auf Kosten seiner Tochter dem Lauf der Natur entgegenstemmt, der ihn seiner Stellung als wichtigster Mann im Leben seines Kindes beraubt, ihn Großvater und überflüssig werden, zumindest aber die Vergänglichkeit spüren lässt und dadurch kränkt (30). Archetypische Strafe dafür ist, als Menschenopfer durch rituelle Zerstückelung getötet zu werden, und vom Druck seines (archaischen) Gewissens, das ihn zu dieser Strafe verdammt, entlastet sich Shylock, indem er es auf Antonio projiziert, den er gleichsam als Ersatzopfer zerstückeln will (30a), um die aufgebrachte Stimme der Natur zu beschwichtigen. Dieser Antonio ist ein wohlhabender Kaufmann, aber zur Zeit knapp bei Kasse, so dass er seinem jungen Freund Bassanio nicht das Geld leihen kann, das dieser von ihm erbittet, um angemessen um die attraktive Portia freien zu können.  Deshalb leiht er sich die Summe bei seinem Feind Shylock und akzeptiert auch dessen Bedingung, ihm ein Pfund Fleisch aus seinem Körper schneiden zu dürfen, wenn die Schuld nicht zum vereinbarten Zeitpunkt zurückgezahlt wird. Dieser Antonio, ein ehrbarer Christ, ist scheinbar das genaue Gegenteil von Shylock: Er ist bereit, Bassanio, den er als älterer väterlicher Freund wie einen Sohn liebt, bei seinen Heiratsplänen finanziell zu unterstützen, statt sie zu vereiteln. Doch Antonio hat auch eine dunkle Seite. Dass sein Quasi-Sohn Bassanio verliebt ist und heiraten will, stürzt ihn in eine schwere Depression, und eine Depression ist immer Folge eines unbewältigten Verlustes, also lässt sich daraus schließen, dass er unterschwellig eifersüchtig ist und doch nicht so leicht loslassen kann, sondern gern Bassanio an sich binden würde - Shylock ist - in der Sprache C.G.Jungs - Antonios Schatten, das heißt, Verkörperung seines negativen, verdrängten Persönlichkeitsanteils. Da auch nicht-ausgeführte, verdrängte böse Wünsche Schuldgefühle erzeugen, lässt sich Antonio zum Zwecke der Selbstbestrafung auf den Pakt mit Shylock ein (30b).

Tief in der menschlichen Seele schlummert der Imperativ, die Alten zu töten, wenn sie dem Nachwuchs aus Egoismus hinderlich sind, und dieser Imperativ könnte auch heute wieder lebendig werden, wenn Finanz- und Schuldenkrisen im Verein mit der Demographie dazu führen, dass die Jugend sich von den Alten bedrückt und ausgenutzt fühlt, "unsere Nachkommen werden uns hartherzig und egoistisch und schandbar finden" (31), es drohen "Revolten angesichts der irrwitzigen Vorsorgepflichten, die jeder für sein eigenes Alter und das Altern der anderen treffen muss" (32), bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt, die durch den Faktor mitgeprägt sein können, dass die Jugend zum großen (oder gar größten) Teil islamisch sein und die Deutschen als moralisch verkommen und dekadent hassen wird. Das archaische Schuldgefühl könnte in diesem clash in den Seelen der Alten demoralisierend und zermürbend als fünfte Kolonne wirken:

Hatten Sie je Schwierigkeiten, sich in das mittelalterliche Weltbild von Schuld und Verdammnis einzufühlen? Wenn ja, dann kann Ihnen geholfen werden. ... Über der Welt jenseits des Jahres 2010 liegt aus heutiger Sicht etwas von mittelalterlicher Todes- und Verfallsatmosphäre, von Ursünde und Strafe. ... Schuld und ihre lebensweltliche Entsprechung, die Schulden, werden zu Schlüsselworten der Epoche werden. Den Alternden werden Schuldgefühle gemacht werden. Und sie werden sich schuldig fühlen, weil sie da sind. (33)

Damit es nicht mörderisch wird, müssen wir Schirrmachers Mahnung beherzigen:

Wir werden uns in den Schutz der Jungen begeben. Die Jungen sind weniger, aber sie sind stark: Es sind die Polizisten, die Bankbeamten, die Journalisten, die Ärzte, die Krankenschwestern, die sich gegen uns auflehnen werden, wenn wir beabsichtigen, mit Hilfe unserer Wählerstimmen uns als ausbeutende Klasse über sie zu erheben.                 (34)



1) Reinhold Merkelbach: Mithras. Ein persisch-römischer Mysterienkult. 1998, S. 193 und Abb. 67

2) Vgl. Merkelbach, a.a.O., S. 197 im Abschnitt Der Sinn des Opfers: "Leben und Tod hängen zusammen; alles Leben entsteht aus dem Tod, alles Leben muss sterben. Ich zitiere nur zwei berühmte Stellen des Neuen Testaments: 'Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn' (1. Kor. 15,36), und : 'Wenn das Getreidekorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; aber wenn es stirbt, bringt es reiche Frucht' (Joh. 12,24)."

3) Ovid: Metamorphosen X, 708-739

4) Ovid, Metamorphosen I, 549ff.: Um die zarte Brust legt sich dünner Bast. Das Haar wächst sich zu Laub aus, die Arme zu Ästen; der eben noch so flinke Fuß haftet an zähen Wurzeln, das Gesicht hat der Wipfel verschlungen ... (Übersetzung: Michael von Albrecht)

5) Vgl. Wolfgang Speyer: Töten als Ritus des Lebens. Zum Sinn des Opfers. In: Ders.: Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld. Kleine Schriften II, 1999: "Der Tod besitzt lebenschaffende Kraft und dient damit der Steigerung des Lebens. ... Wenn alle lebenden Wesen aus Totem gebildet sind, dann schlagen Leben und Tod in Eines zusammen und bilden das Ganze der Wirklichkeit." (S. 45) - Wolfgang Speyers Abhandlung verdanke ich viel.

6) Ilias 6, 146ff.

7) Die Tradition der heiligen Haine setzen heute unsere Naturschutzgebiete fort.

8) Z.B. Tacitus: Germania 39

8a) Belege für diesen heidnischen Baumkult durch Ausdärmen, der sich bis ins Mittelalter hinein hielt, bei Jacob Grimm: Deutsche Rechtsalterthümer Bd II, S. 39f.: "...es soll niemand bäume in der mark schelen, wer das thäte, dem soll man sein nabel aus seinem bauch schneiden u. ihn mit dem selben an den baum nageln u. denselben baumscheler um den baum führen, so lang bis ihm sein gedärm alle aus dem bauch um den baum gewunden seien."

9) Der Begriff dafür ist "Bauopfer". Vgl. den Artikel Bauopfer in: Handbuch des deutschen Aberglaubens. Beispiel in wendischer Sage

9a) Zum Beispiel fränkische Krieger, die den Padus (Po) überschritten, gotische Frauen und Kinder schlachteten und als Opfer in den Fluss warfen - Prokop: Gotenkrieg II,25

10) Horaz: De arte poetica 63ff. - "Nostraque" mit "unsere Werke" zu übersetzen, ist die Idee von Horst Rüdiger (1961 im Artemis-Verlag)

11) Marina Zwetajewa: Die Kunst im Lichte des Gewissens (Übersetzung: Rolf-Dietrich Keil) - In dem Essay beschäftigt sich die Dichterin unter anderem mit Puschkins Todessehnsucht, die ihn einen Kick durch Lebensgefahr in Krieg und Duell suchen ließ und sich zum Beispiel in seinem Drama Das Gelage während der Pest widerspiegelt.

11a) Adam von Bremen: Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, Liber IV: Descriptio insularum aquilonis, Capitulum 27 / Taten der Hamburger Kirchenfürsten, Buch IV: Beschreibung der Inseln des Nordens, Kap. 27

12) Euripides: Die Bakchen 1122ff. - Dass seine eigene Mutter es ist, die Pentheus tötet, zerreißt und zerstreut, lässt sich psychoanalytisch als Erfüllung seines unbewussten Wunsches nach regressiver Vereinigung mit der Mutter (Erde) deuten - dieser dunkle Drang nach Selbstentgrenzung, nach eros und thanatos wird von Spießern wie Pentheus, die ihre eigene Gefühlswelt verkrüppeln, gerne verdrängt.

12a) Ovid: Metamorphosen III, 725ff. - Übersetzung: M. v. Albrecht

12aa) Als Hitler berichtet wurde, dass in seinem Krieg besonders viele junge Offiziere gefallen sind, antwortete er: "Aber dafür sind die jungen Leute doch da!" - Quelle: Albert Zoller: Hitler privat. Düsseldorf 1949, S. 196. Zitiert nach: Joachim C. Fest: Das Gesicht des dritten Reiches. 1963, S. 87

12b) Ovid: Metamorphosen III

12c) Prokop: Vandalenkriege 1, 22 - Übersetzung: Otto Veh

13) Vgl. W. Speyer, a.a.O., S. 43

14) Vgl. C.G.Jung: "Selbst fruchtbar sein - heißt sich selber zerstören, denn mit dem Entstehen der folgenden Generation hat die vorausgehende ihren Höhepunkt überschritten: So werden unsere Nachkommen unsere gefährlichsten Feinde, mit denen wir nicht fertig werden, denn sie werden überleben und uns die Macht aus den entkräfteten Händen nehmen." (aus: Wandlungen und Symbole der Libido). Zitiert aus: Sabina Spielrein: Die Destruktion als Ursache des Werdens (im einleitenden Abschnitt), weil das Zitat in Band 5 der Gesamtausgabe weggelassen ist.

15) A. Schopenhauer: Transzendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen

16) Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G.Jung. Aufgezeichnet und herausgegeben von Aniela Jaffé. Walter Verlag 12. Auflage, S. 142f. (Kapitel Psychiatrische Tätigkeit)

16a) Zum Beispiel Loung Ung, die zu übersinnlichen Wahrnehmungen fähig war und den Tod ihrer Mutter und kleinen Schwester spürte, von denen sie räumlich entfernt war. Sie berichtet es in ihren Erinnerungen (siehe Fußnote 18), im Kapitel Die Mauern bröckeln.

17) S. Freud: Jenseits des Lustprinzips

17a) C.G.Jung: Symbole der Wandlung § 680 (Gesammelte Werke Bd 5) - C.G.Jung vergleicht gerne das Leben des Menschen mit dem Sonnenlauf:

"Denken Sie sich eine Sonne, von menschlichem Gefühl und menschlichem Augenblicksbewusstsein beseelt. Am Morgen entsteht sie aus dem nächtlichen Meere der Unbewusstheit und erblickt nun die weite, bunte Welt in immer weiterer Erstreckung, je höher sie sich am Firmament erhebt. ... Um zwölf Uhr mittags beginnt der Untergang." (Die Lebenswende § 778, in: Gesammelte Werke Bd 8)

18) Loung Ung: Der weite Weg der Hoffnung (Aus dem Amerikanischen von Astrid Becker), 4. Auflage, 2006, S. 97 - Loung Ung hat als Kind die Terrorherrschaft der Roten Khmer überlebt. Ihre Erinnerungen sind eine wichtige Quelle für den Historiker.

19) Loung Ung, a.a.O., S. 249

19a) Dieses (zum Glück nur kurze und folgenlose) Aufblitzen des Todestriebs in Loung Ungs Bewusstsein erinnert an den griechischen Helden und Seher Amphiaraos in Aischylos' Drama Sieben gegen Theben, in dessen Seele der archaische Trieb, durch seinen Tod zu Dünger zu werden und zur Fruchtbarkeit des Erdreichs beizutragen, nicht nur schlummert, sondern zur treibenden Kraft wird. Amphiaraos nimmt am Feldzug gegen Theben teil und sieht voraus, dass er im Kampf umkommen, in die Unterwelt eingehen und in der Erdentiefe als Orakelgott zum Wohle der Menschen wirken wird:

Ich nun will diesen Boden fett machen,
hüllt bettend  mich als Seher die Feindeserde ein   (587f.)

Im griechischen Original steht das Verb piaino "fett, fruchtbar machen", das sich vom Adjektiv pion ableitet, das im Zusammenhang mit "Acker", "Erdboden" und ähnlichem "fettes Ackerland", "fruchtbare Erde" bedeutet. Natürlich lässt sich einwenden, dass Aischylos es im übertragenen Sinne meint: Als Orakelgeist, nicht als Dünger will Amphiaraos durch seinen Tod das Land bereichern. Zugrunde aber liegt der archetypische Trieb, im Kreislauf der Natur durch seinen eigenen Tod das Leben zu fördern. Piaino ließe sich hier auch mit "düngen" übersetzen; es hat die gleiche Bedeutung wie engraisser in Baudelaires Gedicht Abel et Cain.

20) Helmut de Boor: Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung. Darmstadt 1963, S. 8

21) Vandalenkriege I,5; Übersetzung: Otto Veh

22) Euripides: Orestes 1639-1642 (Übersetzung nach D. Ebener). Auch überliefert in Kypria, einem epischen Gedicht, das zum Epischen Zyklus gehört, der sich um den Trojanischen Krieg rankt.

23) Homer: Ilias II, 303-330 - Übersetzung: J.H. Voß, mit geringfügigen Änderungen, zum Beispiel "Schlange" statt "Drache" für "drakon".

24) Die Schlange ist in der Mythologie ein chtonisches Tier, das heißt, sie gehört zur Erde: "Für die Griechen war die Schlange in erster Linie das Tier der geheimisvollen Erdentiefe. (Die Erde als Mutter der Schlangen und Würmer: Herodot I 78 ... In der Tiefe walten die Dämonen, die die Kräfte des Erdbodens ausüben ..." -  Pauly-Wissowa: Realencyclopädie: Artikel Schlange, Spalte 509

25) Herodot VII, 38-39 - Übersetzung: Josef Feix

26) Der Totenkopf als Soldatenemblem ist jedoch nicht Erfindung der Nazis, sondern hatte Tradition: Totenköpfe waren zum Beispiel an Husarenmützen angebracht. Und die Tradition wird fortgeführt - Breivigs Terrorakte lassen sich als Menschenopfer deuten (was ihm selbst vielleicht nicht bewusst war), andernfalls sind sie schwer zu erklären. Er war vom Niedergang der weißen Rasse und vom norwegischen Geburtenrückgang beunruhigt. Warum erschoss er dann massenhaft norwegische Jugendliche? Er wollte ein Fanal gegen islamische Einwanderung setzen. Warum platzierte er seine Autobombe nicht vor einer Moschee, sondern im norwegischen Regierungsvietel? Hat er Menschen seiner eigenen Nation getötet (auf der Insel noch auf Davonschwimmende geschossen, damit die Hekatombe auch voll wird), um sie einem archaisch-heidnischen Gott als Opfer darzubringen und ihn wieder günstig zu stimmen, damit er den Fluch der Unfruchtbarkeit und des Aussterbens vom norwegischen Volk nimmt?

27) in seinem umstrittenen Essay Wotan (GW 10, § 386)

28) besonders angesichts knapper Ressourcen, wenn es nicht mehr für alle reicht. Carl Amery warnt davor in seinem Buch Hitler als Vorläufer - Auschwitz als Beginn des 21. Jahrhunderts?, das 1998 erschein. Das Nazi-Reich - so seine These - gleiche Draculas Palast. Es sei zerstört, doch wie Dracula noch in den Kellergewölben (Metapher für das menschliche Unterbewusstsein!) lebe, sei Hitler als Verkörperung des Geistes der Selektion "unterm Schutt nur scheintot" und könne "durchauswieder regsam werden" (S. 12f.).

29) Italische Mythen, Kapitel 2. In: Rheinisches Museum für Philologie, Band 30, 1875

30) Als Jessica im idyllischen Belmont mit Lorenzo verliebt plaudert, ist sie in Gedanken trotzdem bei ihrem Vater, denn sie weiß, dass sie ihn durch ihre Flucht an die Seite des jungen Lorenzo zum Opa gemacht (zumindest den ersten Schritt dazu getan hat) und ihm dadurch wehgetan hat. Sie hat deshalb Schuldgefühle und würde es gerne wiedergutmachen, indem sie den alten Shylock durch Zauberei verjüngt wie Medea ihren Schwiegervater Aeson:

"In such a night / Medea gathered the enchanted herbs / That did renew old Aeson" (V,1)

Als Jessica von zu Hause abhaut, herrscht in Venedig gerade ausgelassenes Karnevalstreiben, was symbolisch ist: Für Jessica ist es wie für die gesamte Natur ein Frühling, die Zeit des Aufblühens und der Fruchtbarkeit, für Shylock dagegen, der Unfruchtbarkeit und Winter verkörpert, eine Niederlage.

30a) Theodor Reik, ein Schüler Sigmund Freuds, kommt in seiner psychoanalytischen Shakespeare-Studie unter anderen Vorzeichen der Deutung von Antonios geplanter Verstümmelung als Menschenopfer sehr nahe:
"(Shakespeare) added the figure of Antonio, who was to be cut and mutilated, to the mythical figures of Attis, Adonis, and Jesus Christ, who were torn to pieces."
Theodor Reik: Jessica, My Child, in: The Design within. Psychoanalytic Approaches to Shakespeare (Herausg. v. M.D. Faber) 1970, besonders die Seiten 451-455

30b) In IV,1 spricht das archaische Gewissen aus Antonio: "I am a tainted wether of the flock / Meetest for death, - the weakest kind of fruit / Drops earliest to the ground, and so let me; / You cannot better be employ'd, Bassiano / Than to live still and write mine epitaph." Ein Widder war in vorchristlich-naturreligiösen Zeiten ein beliebtes Opfertier. Antonio hält sich für "tainted", "mit einer Krankheit behaftet", womit er vordergründig seine Depression meint, die aber Folge einer tiefer sitzenden Krankheit ist, dem verdrängten Wunsch, Bassanio nicht loszulassen. Und Antonio vergleicht sich mit einer Baumfrucht, deren Bestimmung es ist, zu Boden zu fallen, wenn ihre Zeit gekommen ist, und zu vergehen, damit aus einem der Samen ein neuer Baum entsteht - dieses Bild ist verwandt mit dem homerischen Sinnspruch, den wir anfangs zitieren: "Gleich wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen / Einige streuet der Wind auf die Erd' hin, andere wieder /  treibt der knospende Wald, erzeugt in des Frühlings Wärme: / So der Menschen Geschlecht, dies wächst und jenes verschwindet."
Im Kreislauf der Natur müssen die Alten Opfer bringen, damit die Jugend sich entfalten kann. In der Zivilisation, also auch bei Shakespeare, ist damit gemeint: Die Alten dürfen die Jungen, die flügge sind, nicht an sich binden, sondern sollen sie gehen lassen (und ihnen dazu auch einen Teil ihres Vermögens, das den Kindern ja als Erbe zusteht, überlassen). Widersetzt sich ein Alter aus menschlichem Egoismus dieser Forderung der Natur, könnte dadurch das archaische Gewissen mobilisiert werden, das den Alten zum Tod im Kreislauf der Natur verdammt.

Als weitere Anspielung auf das (Menschen)Opfer-Motiv lässt sich Lorenzos Bemerkung im verliebten Gespräch mit Jessica deuten:

"look how the floor of heaven / Is thick inlaid with patens of bright gold" (V,1)

Die Patene gehört zum Ritus der Eucharistie, deren Sinn die Darbringung Christi als Menschenopfer ist. Im Kaufmann von Venedig wurden von den Alten Opfer für die Jugend dargebracht, die ihnen mehr oder weniger an die Substanz gingen. Von Antonio freiwillig (wobei er Zerstörung seiner geschäftlichen Existenz durch Bankrott und physische Vernichtung riskierte), von Shylock widerstrebend (Jessica hat einen Teil seines Vermögens mitgehen lassen, als sie abhaute, und auch später musste er noch Federn lassen). Zum Symbol der "paten" vgl. Shakespeare: The Merchant of Venice. Edited by Horace Howard Furness (A New Variorum Edition), S. 246f.

31) Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott. 2004, S. 32

32) Schirrmacher, a.a.O., S. 27

33) Schirrmacher, a.a.O., S. 56f.

34) Schirrmacher, a.a.O., S. 52

   
 
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